Donnerstag, 10. Januar 2013

The Goebbels Experience #1: Sieben Film-Thesen von 1935 – und das deutsche Kino heute


Wir sind stolz.

Ansichtssache – Zum aktuellen deutschen Film ist ungefähr der einzige gegenwärtige Reader zur deutschen Kinematographie, der gleich als erstes mal den Herrn Goebbels zitiert. Da ist unsererseits natürlich eine Menge Willkür dabei, eine gehörige Portion pubertärer Provokation, Widerspruchsgeist gegen den ach so oft beschimpften Zeitgeist der political correctness. Aber andererseits war Joseph Goebbels eben die Person, die den deutschen Film geprägt hat wie keine andere; er hatte ja auch Machtmittel in der Hand wie keine andere.

Joseph Goebbels bestellt sich ein Herrengedeck
Und er hielt sich dabei für einen großen Filmtheoretiker, denn klar: Jeder musste ihm zuhören, wenn er etwas sagte, und wenn er etwas über den deutschen Film pfiff, tanzte die gesamte Filmindustrie dazu. Doch was sagte er da, welchen Marsch pfiff er? Da lässt sich sicherlich keine stringente Argumentation ausmachen; und sicherlich auch keine tiefsinnigen Erkenntnisse (die zu verbreiten er ja auch qua Amt und umgeben von Jasagern gar nicht nötig hatte).

Gut lesbar – im Gegensatz zu manchen seiner Reden an die Reichsfilmschaffenden – sind seine sieben Film-Thesen von 1935, in denen Goebbels kurz und prägnant seine Vorstellungen vom Kino und implizit seine Ideen zum deutschen Kino darlegte. Die pendeln irgendwo zwischen Banalität und Größenwahn, zwischen Oberflächlichkeit und Prägnanz. Und weil sie sich um verschiedene Themen drehen, und zumal, weil sie sich bisweilen so lesen, wie auch heutzutage über den deutschen Film geschrieben wird, lässt sich anhand dieser goebbelsschen Ansichten ganz gut auch der aktuelle, heutige deutsche Film anleuchten. Wenn auch vielleicht etwas schief und von der (rechten) Seite. (Ich zitiere die Goebbels-Thesen nach Wilfried von Bredow / Rolf Zureck: Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien. Hoffmann und Campe, Hamburg 1975, S. 178 – 180.)

These 1: „Der Film hat seine eigenen Gesetze“

„Nur im Gehorsam gegen diese ihm eigenen Gesetze wird er sein eigenes Gesicht wahren können. Diese Gesetze stammen nicht von der Bühne. Der Primat der Bühne über den Film muss gebrochen werden.“
Das ist schon einmal gleich zu Anfang ein starkes Plädoyer für das Kino, für das Kino als eigene Kunstform; man muss sich vergewärtigen, dass noch in den 1920ern der Film kämpfen musste gegen die Anmutung als Jahrmarktsattraktion (was ja eine Menge großer Kunstwerke, die noch heute als die Klassiker des Films angesehen werden, hervorbrachte). Film war eine junge Kunst, Film musste etabliert werden, und Goebbels tat dies von ganz oben. Und er betont, dass die Definition von Film als Kunst auch ästhetische Konsequenzen haben muss: „Die Bühne spricht ihre Sprache und der Film spricht seine Sprache. Was im Dämmerlicht der Kulisse noch erträglich wirkt, das wird unter dem harten Licht der Jupiterlampen vollends demaskiert.

Wie genau nun diese postulierte Subtilität des Films sich abheben soll von Bühneninszenierungen, wo konkret angesetzt werden kann gegen eine Theaterhaftigkeit der filmischen Mise en Scene, das lässt er offen (als Reichsminister kann er sich ja nicht um alles kümmern). Um freilich im nächsten Satz klarzustellen:
Zwar wird die Bühne, fußend auf ihrer jahrhundertealten Überlieferung, mit aller Kraft versuchen, ihre Vormundschaft über den Film zu halten. Es ist eine künstlerische Lebensfrage für den Film, sie dennoch zu brechen und sich auf seine eigenen Füße zu stellen.“
Zweifelsohne sah sich Goebbels selbst als Krückenschnitzer für die wackligen Beine des deutschen Films, und als tatkräftiger Helfer der jungen, modernen gegen die traditionelle Kunstform.

Was er anspricht als Überheblichkeit des etablierten Theaters gegenüber dem Emporkömmling Kino, das hat auch heute noch, in etwas anderer Form, Hand und Fuß. Die (von Goebbels behaupteten) beharrenden Kräfte des Theaters, gegen die er anargumentiert – stehen sie nicht analog dem E, das auch heute noch allzu gerne gegen das U ausgespielt wird? (Und wenn der Vergleich der beiden Diskurse hinkt, dann doch immerhin weniger als Goebbels selbst.) Allzu gerne werden „Mainstream“ und „Hollywood“ verteufelt; allzu gerne wird Arthouse über Popcorn gestellt. Intermedial, wenn Literatur pauschal ihren Verfilmungen vorgezogen wird; international, wenn die Hegemonie amerikanischen Kommerzkinos verflucht wird; national, wenn etwa Filmkritiker die Einseitigkeit der Preisträger des deutschen Filmpreises auf der Kommerzseite verorten.

Diese dichotomischen Abgrenzungen haben natürlich ihre Begründungen, inhaltlich, ästhetisch etc. Aber eben: Nur im Einzelfall, nicht pauschal, nicht apodiktisch, nicht im System „Kunst“. Die Gleichung „sperrig = gut“ ist halt ebenso falsch wie „gut = publikumsnah“, aber das ist gar nicht der Punkt. Es geht – vielleicht auch, irgendwie, dem Herrn Propagoebbels – darum: Über das als „niedrig“ Empfundene kann man nur reden, wenn man hinabgestiegen ist. Nur dadurch kann das scheinbar Geringwertige die Vormundschaft des Höhergeschätzten brechen, kann die „künstlerische Lebensfrage“ positiv beantworten (wenn es etwas Positives gibt, das wäre ja herauszufinden.) Dann kann sich das, was missachtet wurde, prachtvoll erheben und seine ganze Größe zeigen. (Außer natürlich, es wurde mit recht missachtet und nicht, weil es was Neues, was Anderes, gar was Originelles war.)

Ob nun weiland die Bühne sich dem Film überlegen fühlte, oder heutzutage im gebildeten Diskurs beispielsweise analog über digital oder das Bildungs- über das Unterschichtenfernsehen gestellt wird: Man sollte seinen Gegner kennen, wenigstens das.

Das Schöne daran ist, dass dieser Text an dieser Stelle psychologisch geschickt und unbemerkt auf Werbung umschalten kann und dass Sie, ohne die Manipulation zu bemerken, im Folgenden ganz subtil von den Qualitäten von Ansichtssache – Zum aktuellen deutschen Film vollkommen überzeugt werden.

Denn in diesem herausragenden Reader gibt es beispielsweise den Beitrag „Vom Experimentalroman zum ‚Lügenfernsehen’“ von Bernd Schon, der sich mit der Auseinandersetzung über das scripted-reality-Format im Fernsehen für die bildungsferneren Bevölkerungsschichten beschäftig. Am Beispiel von „Familien im Brennpunkt“ (RTL) führt er die literarischen und filmischen Traditionen von Realitäts- und Fiktionsvermengungen an, auf denen die als „Sozialporno“ verschrienen Kleinformat-Sozialdramen fußen – etwa der Naturalismus eines Emile Zola oder die filmischen Mischformen wie Mockumentary, Dokusoap oder Dokudrama.

Bernd Zywietz wiederum wendet sich mit seinem Beitrag „‘German Mumblecore‘ – Video, Digitalisierung und Improvisation – aktuelle Freilandfilmer und ihre Welt“ solchen Filmemachern zu, die zwischen kommerziell hochgezüchtetem Kommerz und einer Kino-Kunst der „Staatsknete“ (Klaus Lemke) ihr eigenes Ding machen – und die dabei technisch, konzeptionell, filmsprachlich wie inszenatorisch sich an einem eigenen freien Kino (oder zumindest Kino-Stil) erfolgreich versuchen, irgendwo unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Etablierten. Dass und wie so etwas, nicht zuletzt dank der Digitalisierung, möglich ist, hat freilich der Joseph G. nicht vorausgesehen.


Harald Mühlbeyer

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