Sonntag, 30. Juni 2013

Filmfest München 2013: "Grenzgang" von Brigitte Bertele

Beim Filmfest München kann man die Ernte betrachten, die aus der Saat spross, die in ANSICHTSSACHE begutachtet wurde: Brigitte Bertele war während der Formulierung ihres persönlichen beruflichen Credos (für unser Buch ganz exklusiv, dieses Werbeschlagwort muss hier mal sein) im letzten Spätsommer eingespannt in Dreharbeiten und Postproduktion ihres Filmes "Grenzgang", der nun hier läuft. Jakob Lass' "Love Steaks", ebenfalls in München, firmierte in Bernd Zywietz' Porträt der jungen German-Mumblecore-Szene noch unter dem Arbeitstitel "FOGMA #1", während für Axel Ranischs "Ich fühl mich Disco" der Titel schon feststand - auch auf diesen Film hat sich Zywietz bezogen. (hier nochmals ein Hinweis auf eine Zusammenfassung des Inhalts von ANSICHTSSACHE...)

Während also ANSICHTSSACHE bei Erscheinen vor einem knappen halben Jahr ersichtlich seiner
Zeit voraus war und nun absolut auf der Höhe ist, wenn  die o.g. Filme so allmählich in die Wahrnehmung des Publikums rutschen, ist in "Grenzgang" der Blick zurück die Lebensweise der Figuren, so sehr sie sich damit quälen. Thomas, Heimkehrer in die nordhessische Provinz direkt aus Berlin, lernt auf dem Volksfest, dem Grenzgang, Kerstin kennen, die es viele Jahre zuvor der Liebe wegen hierher verschlagen hat; es kommt zu so etwas wie einem Kuss.
Sieben Jahre später - das ist der Turnus des Grenzgang - ist beider Leben entscheidend weitergelaufen und steckt enttäuschend fest. Kerstin, geschieden, mit pubertär-verschlossen-verächtlichem Sohn und pflegebedürftiger Mutter, richtet sich ein in einem einsamen Leben à la vertrocknetes Scheidungsopfer. Sie wird noch immer still vonThomas verehrt, der freilich auf dem besten Weg zum Typus alleinstehender Studienrat ist. Beide hängen fest, haben längst keine Träume mehr, sitzen ihre Zeit ab und scheuen zugleich Veränderung.

Brigitte Bertele gelingt ein klarer und unverstellter Blick in die Provinz. Das Besondere: Nicht aus einer Außenperspektive, mit (gewollter oder ungewollter) überheblicher oder herablassender Attitüde - und auch nicht anheimelnd mit volkstümelndem Touch. Sondern als ein konzentrierter Ort der selbstgewählten Einengung, die durchaus auch als Klarheit und Ordnung verstanden werden kann, mit der man nicht nur leben, sondern die man auch als Lebenseinstellung übernehmen kann. So wie Hanns Zischler als sehr coole Schulrektor-Figur, der quasi in der Schule wohnt, sich sein eigenes kleines Reich geschaffen hat mit Liegestuhl, Lektüre und Cognac (und der sich abfindet mit der minderen Qualität der Alkoholika, die im Ort zu bekommen sind).

Die Geschichte der aufkeimenden Liebe zwischen Kerstin und Thomas ist eine Geschichte, die auch zeigt, wie aufkeimende Lieben wieder untergepflügt werden können, gerade, aber nicht nur im Provinzkaff. Wie eine frei und offen gelebte Sexualität nicht möglich ist, wie man sich die kleinen geheimen Orte suchen muss. Eine Freundin von Kerstin überredet sie dazu, mit ihr in einen Pärchenklub zu gehen; eine andere Form der Anmache, des Flirts ist im Ort kaum möglich. Thomas trifft sich mit seiner Ex - die all paar Monate mal in aller Freundschaft vorbeischaut - im Restaurant einer Tankstelle.

Der Film zeigt aber auch, dass diese Verkrustungen nicht unbedingt Einengung sein müssen; dass man nur umzugehen lernen muss; dass Freiheit in Grenzen möglich sein kann. Wenn man sie will und sucht. Der Grenzgang findet traditionell alle sieben Jahre statt, immerhin an diesen Feier-Tagen ist alles möglich, Wandern, Saufen, Partnersuche. Grenzgang: Das ist eine jahrhundertealte Tradition, ein reales Fest in Biedenkopf an der Lahn, entstanden aus Grenzstreitigkeiten im Mittelalter, als die Biedenkopfer immer wieder ihre Grenzen abgingen, ob nicht ein Nachbar den Grenzstein versetzt hat. Aus diesem Fest der Ausgrenzung, der Abschließung nach außen ist über die Jahrhunderte ein Volksfest geworden für alle, eine Feier des Miteinanders. Was beim Grenzgang über den Lauf der Zeit möglich ist, ist auch in der Liebe möglich.

"Grenzgang" wird am 27. November im Ersten gesendet.

Harald Mühlbeyer

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