(von unserem Partner-Dienst "Terrorismus & Film")
Daniel Harrichs DER BLINDER FLECK – TÄTER, ATTENTÄTER,
EINZELTÄTER? ist kein gelungener Film, aber, zumindest und nicht zuletzt, ein
durchaus wichtiger. Den Bogen in die Gegenwart schlägt der Film selbst, zu den NSU-Morden
und dem Versagen (oder Schlimmeren) der verschiedenen Landes- und Bundessicherheitsbehörden.
So blickt der Radio-Journalist Chaussy gegen Ende des Films auf die Gesichter
der drei Rechtsradikalen auf dem Fernsehschirm seines Bayerischen Rundfunk, als
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als Terrorbande entlarvt sind –
eine Art „Hab ich’s doch gesagt“-Moment, Bestätigung und Grausen zugleich für
die Hauptfigur, den findigen, unbeirrbaren Reporter. Doch was genau der Film
hier sagen will, bleibt merkwürdig unzwingend.
Während gerade über Beate Zschäpes Schuld in München
verhandelt ist, ist dort auf dem Oktoberfest vor vierunddreißig Jahren eine
Bombe explodiert. Dreizehn Menschen starben, über zweihundert wurden teils
schwer verletzt – praktisch der schlimmste Anschlag in der Geschichte
Nachkriegsdeutschlands. Wie kann es sein, dass dieses Ereignis so in
Vergessenheit geraten ist? Dass, wenn von hiesigem Terrorismus die Rede ist,
man fast ausschließlich an die linke RAF und Co. denkt oder an gegenwärtige militante
Islamisten?
Auch Ulrich Harrich hat sich gewundert. Der junge
Filmemacher, der hier seinen zweiten Langfilm vorlegt, zuvor schon für das
Fernsehen gearbeitet hat, tat sich zusammen mit Chaussy, der seinerzeit und
darüber hinaus Widersprüche und Ungereimtheiten entdeckten, nicht an die immer
noch offizielle Version glauben mochte, jene, die von einem Einzeltäter ausgeht:
Gundolf Köhler, der selbst seiner Bombe zum Opfer fiel und der Verbindungen zur
rechtsradikalen, verbotenen „Wehrsportgruppe Hoffman“ hatte. Und vielleicht
liegt darin ja das Geheimnis um die relative kollektive Vergessenheit der Terrortat.
Die verdauliche Geschichte vom einzelnen Extremisten, eine Art Wahnsinniger –
das ist schlimm und unheimlich, zugleich aber politisch halbwegs
unproblematisch. Solche Spinner gab es immer, wird’s immer geben; ist halt
nichts zu machen. So könnte man meinen und denken und wegerklären und
tatsächlich: Wird es nicht wirklich „ernst“, gedanklich und emotional aufschreiens-
und einschreitenswert, wenn aus der individuellen Verwirrtheit Ideologie wird,
aus dem Spinner eine Bewegung (damit der Spinner zu einem, der sein Weltsicht
kommunizieren, gar teilen kann, der Teil einer Gemeinschaft Gefährlicher)?
Ist „der deutsche Staat“ oder zumindest die Organe, die ihn
schützen sollen, immer noch oder schon wieder „auf dem rechte Auge blind“? Der
Film impliziert das ein wenig, wenn zu Beginn Chaussy mit seiner WG als „Linke“
von der Polizei behelligt, Neo-Faschisten hingegen als Männer, die halt mal im
Wald Krieg spielen, verharmlost werden. Recht schematisch lässt der DER BLINDE
FELCK auftreten, führt an und vor: das bayerische Urgestein und Schreckgespenst
(und damaligen Kanzlerkandidaten) Franz Josef Strauß (nur von hinten gezeigt),
die CSU-Regierungsnachsichtigkeit gegenüber der quasi viel zu spät verbotenen
Wehrsportgruppe und eine kooperierende Boulevardpresse, die unter der Hand
vorab mit Informationen gefüttert wird ... Als „Gegenspiel“ Chaussys tritt der
von Heiner Lauterbach gespielte Dr. Hans Langemann, Staatsschutz-Chef des
Freistaats auf, der aus diversen Gründen „seine“ Version zum Anschlag
aufrechterhalten will.
Zum einen aber taugt die attraktive Verbindung zwischen
Oktoberfestattentat hier und der NSU dort nur bedingt, schaut man sich Art und
Ausmaß der staatlichen Verfehlungen und Pannen an. Wie den „Döner-Morden“
begegnet wurde, ist, nicht zuletzt angesichts von Kompetenzrangeleien zwischen
den einzelnen Diensten gelinde gesagt eine Schande, und auch was Anfang der
1980er in Bayern (und vielleicht auch Karlsruhe) ermittlungstechnisch, aufklärungsmäßig,
politkalkulatorisch und sonstwie geschah, war auch alles andere als in Ordnung.
Doch – immerhin – war schnell klar und öffentlich, wer der (vermutliche) Täter,
war, ebenso sein Rechtsradikalismus und seine Verbindungen ins Neonazi-Milieu.
Damit zusammengeht – zum anderen – eine ganz merkwürdige Unverhältnismäßig von
der DER BLINDE FLECK. Es mag zynisch klingen, ist aber keineswegs so gemeint: Die
Affäre, das Vertuschen, skandalöse Wegschauen und Nicht-Wissen-Wollen, wie sie
der Film ausbreitet, darlegt, scheinen seiner Enthüllungs- und Empörungshaltung
nicht angemessen, vor allem die Spannungshuberei als knackiger Mainstream-Politthriller (bei aller
auch historischer, politischer und moralischer Bedeutung des enormen Engagements
und Resultaten Chaussys auf der Suche nach der Wahrheit). Am Schluss (eine
finale Texttafel verrät es) ist Schurke Langemann diskreditiert und verurteilt
(wenn auch nicht wegen seiner Rolle in Sachen Anschlag), der „Held“
Chaussy wird, siehe NSU, irgendwie, traurig bestätigt. Wichtige Beweismittel –
so erzählte es auch der reale BR-Journalist nach der Vorführung in Saarbrücken –
wurden in den 1990ern in Karlsruhe vernichtet, eine Hand, die zu keinem der
übrigen Opfer gehörte. Freilich: Warum nicht, wenn der Fall abgeschlossen war?
Es drängt Chaussy nicht zur Verschwörungstheorie, aber der Film selbst bewegt
sich sehr, vielleicht zu wohlig im Gestus des entsprechenden Genres. Gerade so,
dass Schlampereien (oder die kühlen Verfahrensregularien) automatisch in den
Ruch der Vertuschung geraten, jede andere Perspektive als die des Film-Chaussys
(bei aller legitimer, gar gebotener weil kritischer Tendenz) bestenfalls als amoralische
Ignoranz erscheint.
Da hilft es eben nicht, dass man auch die Gegenseite (eben
Langemann) als zweite Hauptfigur etabliert, die, ein Pluspunkt, durchaus hätte
eindimensionaler angelegt und gespielt sein können. Nichtsdestotrotz ist dieser
Langemann einer, der klar falsch handelt, vielleicht aus Überzeugung, aber in
klarem Bewusstsein. Und es stimmt schlicht nicht, was Eckhard Fuhr in der WELT
schrieb: „Der Film gewinnt ungemein
dadurch, dass er der Versuchung widersteht, die Geschichte Ulrich Chaussys als
Reporter-Heldenepos zu erzählen.“ Denn das genau tut DER BLINDE FLECK eben
in gewisser Weise (selbst wenn dieser Held am Ende nicht triumphiert),
vielleicht aus zu großer Nähe zu Buchautoren Chaussy heraus, dem, nochmals, für
seine Arbeit großen Respekt gebührt und der auch in Saarbrücken als ein
überlegter, sachlicher Mensch auftrat.
Der Kino-Chaussy, den Benno Führmann mit standardisierten
Gesichtsausdrücken (engagiert, nachdenklich-stirnrunzelnd) präsentiert, ist mehr
noch ein Heldentypus, den man nicht zuletzt in Hollywood unzählige Male gesehen
hat. In Oliver Stones JFK etwa, aber auch im weniger politischen ZODIAC von
David Fincher, in dem Jake Gyllenhaal den titelgebenden und historischen
Serienkiller zu identifizieren trachtet. Wohl bekannt ist diese heroische
Figur: Ein Passionierter, Getriebener, der es wissen will, nein, muss, der sich in die Akten frisst,
nicht locker lässt, alles seiner Mission unterordnet. Entsprechend verleitet
DER BLINDE FLECK zum Unterhaltungspolitthriller-Versatzstückabhaken:
nächtliches Treffen mit dem geheimen Informanten – check. Verfolgung von
Finstermännern – check. Die Gattin, ihn anfangs noch unterstützt, stellt Chaussy
vor die „Ich oder der Fall!“-Wahl – check. Und verlässt ihn – check (Nicolette
Krebitz allerdings verleiht hier dem Klischee Dimension).
Handwerklich ist DER BLINDE FLECK solides Kino, nicht
weniger, aber auch nicht mehr. Dabei ist Harrich, zugleich, hoch anzurechnen,
dass er den Anschlag als solchen, dass er die Explosion nicht zeigt, sich nicht
daran weidet. Die Besetzung des mit Langemann verbandelten Journalisten und des
Bundesanwalt mit den Münchner TATORT-Kommissardarstellern Udo Wachtveitl und
Miroslav Nemec wiederum tut dem Film nicht gut, zu ironisch-pointenhaft wirken
sie. Großartig hingegen und wie stets ein Genuss ist Jörg Hartmann, der den
Opferanwalt gibt (und sonst den wunderbar gestörten, zugleich unverbrauchte und
unbayerische Hauptkommissar Peter Faber im Dortmunder TATORT).
Letztendlich jedoch funktioniert DER BLINDE FLECK als Film
nicht, weil er in seiner „Skandalisierung“ zu groß daherkommt und zugleich
nicht groß genug ist. Insbesondere in seiner typisierten oder generischen Form.
Und wie aufmerksamkeits- und kritikwürdig sein Thema und die Realität dahinter
auch unzweifelhaft sein mögen, sind wir doch längst und aktueller nachgerade
schlimmer dimensionierte, gravierendere weil unaufbereitete und zugleich
weithin bekannte, unversteckte Staatssauereien jenseits der CSU-Lande „gewöhnt“,
mithin erregungstechnisch verwöhnt und womöglich abgestumpft: das globale
Spitzelsystem von NSA u. Co., Menschenrechtsverletzungen im Namen des globalen Anti-Terror-Kriegs,
Einmärsche in Länder aufgrund erfundener Massenvernichtungswaffen und,
hierzulande, dann gerade die hinsichtlich
der Grausamkeiten des NSU und dem fatalen Umgang damit. Bei aller Tragik, bei
allem Recht auch auf diese Wahrheit und deren Bedeutung: Was – zynisch gefragt
– schert es da noch, ob seinerzeit Gundolf Köhler alleine handelte oder nicht?
Nochmals: Natürlich schert es. DER BLINDE FLECK aber hat als
Film – dramaturgisch, ästhetisch – wenig Anteil an dessen Verdeutlichung. Da
hilft es auch nicht, dass DER BLINDE FLECK ein „Nachwuchsfilm“ ist bzw. als
solcher nun auf dem Max Ophüls Preis 2014 im Wettbewerb lief. Denn ein Jahr
zuvor hat in Saarbrücken Stefan Schaller mit FÜNF JAHRE LEBEN gezeigt, wie so
etwas eben anders geht, auch als/im Nachwuchsfilm. Die kinoreife Behandlung der
„Affäre“ Murat Kurnaz, jenem Deutschtürken, der in Guantanamo gefangen gehalten
und gefoltert wurde, der letzten Endes einfach Terroristen sein sollte, dieser Film hat das Rad in
Sachen filmischem Erzählen zwar ebenfalls nicht neu erfunden. Er belegt aber,
wie gerade mit den klassischen Mitteln, über Figuren und ihre Konstellationen
und Konflikte, die Dramaturgie, die emotionale Ansprache und die formalen Verfahren
(Doku-Fiktion-) Kino ein Mehr bieten kann gegenüber Enthüllungsreportagen und
Sachbüchern. FÜNF JAHRE LEBEN liefert einen ganz eigenen Beitrag, der auf einer
anderen Ebene aufrüttelt, im besten Sinne empört und veranschaulicht, der
mitfühlen lässt – legitime, wichtige Leistungen und Funktionen, weil
Problemblicke unter die Oberfläche des Politischen.
So besehen ist DER BLINDE FLECK kein guter Film – und doch
ein „guter“ (oder wichtiger). Denn der Film ist zwar nicht sonderlich geeignet,
einer der nicht mehr als interessierend, vielleicht auch anrührend
Informationen transportiert, die zum Skandal und seine Verfehlungen ein eigenes
zusätzliches menschliches Drama benötigen (das des Helden Chaussy, das so ja
nur mittelbar das der Wiesn-Bombe und der nachfolgenden „Affäre“ ist). Aber der
Film hat – als Politikum – etwas bewirkt: Nachdem DER BLINDE FLECK nicht nur
auf dem Münchner Filmfest lief, sondern auch im Bayerischen Landtag gezeigt
wurde, wurden Akten endlich ungeschwärzt freigegeben. Dem Ruf nach
Wiederaufnahme der Untersuchungen verleiht er enormen Nachdruck. Das ist an und
für sich schon ein eigener Wert, der Filmkunstkritik relativiert.
Inwiefern (ein gewisses Maß an) Konventionalität für einen
solchen Erfolg Voraussetzung ist, sei es, weil Beamte und Politiker selbst
„affiziert“ werden, sei es, weil sie eine entsprechende Wirkung beim Volk
annehmen (Stichwort Agenda-Setting und Third-Person-Effekt) und darauf
„proaktiv“ reagieren, ist überlegenswert, jedoch auch ein eigenes Thema für
sich.
DER BLINDE FLECK –
TÄTER, ATTENTÄTER, EINZELTÄTER? läuft seit dem 23. Januar im Kino. Die
aktualisierte Neuauflage von Ulrich Chaussys Buch, Oktoberfest – Das
Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, ist dazu begleitend gerade im Verlag Ch. Links für 19,80 Euro erschienen.
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