„Der Film muß sich freimachen von der vulgären Plattheit des
bloßen Massenamüsements, darf dabei aber nicht die starke innere Beziehung zum
Volke verlieren. Der Geschmack des Publikums ist keine unabänderliche Tatsache,
die man als gegeben hinnehmen muß. Er ist erziehbar im guten wie im bösen
Sinne.“ So zitieren die Herausgeber in der ANSICHTSSACHE-Einleitung den
Goebbels-Jupp, und sie fahren fort: „und wie um uns Nachgeborenen einen Kick in
Sachen bittere Ironie zu verschaffen, hat der hinkende Propagandist die Erziehbarkeit
zum Guten wie zum Bösen durch Kursivschrift betont.“
Es ist dies die zweite These von Goebbels’ Lehrsätzen zum
Film, mit dem Postulat, das Kino von vulgärer Plattheit zu reinigen – nichts
ist dem Goebbels nämlich mehr zuwider! „An dem Willen, diese Erziehung auch
praktisch und, wenn nötig, mit materiellen Opfern durchzuführen, entscheidet
sich das künstlerische Gesicht des Films“, so führt er weiter aus. Was das im
Klartext heißt? Vermutlich irgendwas aus dem Diskurs zwischen Anspruch und
Unterhaltung, zwischen Popcorn und Arthouse; jedenfalls sieht Goebbels im Film
den erzieherischen Auftrag, der auch dahin geht, das Publikum weiterzuführen,
als es je geahnt hätte, gehen zu können; auf guten wie auf schlechten Pfaden. Film
ist Lehrstoff (und zwar mit starker innerer Beziehung zum Volke), und Film kann
den Geschmack des Publikums ändern – ist das nicht das Ideal des bewegten
Bildes, das auch die 1970er bestimmte, als Filme – unter reger Teilnahme des
Fernsehens – produziert wurden, weil sie produziert werden mussten, und
nicht, weil sie von irgendeiner Zielgruppe mehr oder weniger vermeintlich gewollt
werden?
Ist mit den materiellen Opfern, die diese Erziehung
verlangt, eine wie auch immer geartete staatliche Förderung gemeint (wie sie in
These 4 explizit aufgegriffen wird); oder geht es um das Zurückschrauben von
Erwartungen an Zuschauerzahlen und – modern gesprochen – Einschaltquoten? Ist
der Geschmack des Publikums nämlich noch nicht soweit, wie es dem Film
vorschwebt, so wird der Film auch nicht angenommen werden. Erst langsam muss
der Sinn für neue Ästhetik, neuen Inhalt, für das „neue künstlerische Gesicht
des Films“ gestaltet werden, gehegt und gepflegt, bis er wachsen kann und sich
verbreitet: Will der Film zu neuen Ufern der Seherfahrung führen, muss er mit
kleinen Erwartungen anfangen – ob Goebbels das sagen will? Fehlende Zuschauer
als Investition in die Zukunft des Films?
Man möge verzeihen: Selbstverständlich lese ich in Goebbels
Dinge hinein, die er nicht gemeint hat; ihm ging es, nach allem, was er in den
ihm verbleibenden Jahren schuf, um die Erziehung des Menschen im bösen Sinne,
Film war von Anfang an als Teil der Nazipropagandamaschinerie gedacht. Doch
natürlich kann man auf diesen verdrehten Ideen gut herumspringen, an diesem
Stoff gut herumspinnen – das Interessante ist ja gerade, dass Goebbels vor
knapp 80 Jahren schon Worte von sich gegeben hat, denen – lässt man ihnen genug
Willkür angedeihen – locker ein Bezug zum Heute angedichtet werden kann.
Papa Goebbels beim familiären Fernsehabend |
Die sogenannte Berliner Schule andererseits ist die erste
wirkliche stilbildende Bewegung in der deutschen Kinematographie der letzten
Jahrzehnte. Wie auch immer man zu diesem Begriff steht, wie auch immer man argumentiert,
ob es sich hier um eine filmemacherische Gemeinschaft handelt oder um ein
schlichtes Zufallsprodukt des Zeitgeistes, der ähnliche Filme in einer
ähnlichen gesellschaftlichen Lage herausfordert: Die Protagonisten der Berliner
Schule glauben an eine Erziehbarkeit des Geschmacks, und vielleicht nicht nur
des Geschmacks. Sie suchen nie gesehene Bilder, sie suchen den Blick der
Analyse und Diagnose, um Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht Aufmerksamkeit auf
sich, sondern ein Aufmerken für die Details, für die kleinen Stellschrauben im
gesamtgesellschaftlichen Getriebe, und für die Auswirkungen, die ein kleiner
Dreh daran verursachen kann.
Julia Quedzuweit beschreibt in ANSICHTSSACHE das Leben in
der Optimierungsgesellschaft, und den besonderen Blick der
Berliner-Schule-Filme und ihrer Macher auf diese Gesellschaft, die ständige
Selbstverbesserung fordert, eine Gesellschaft der Individualisierung, der
Vereinzelung. „[…] [D]iese liefern zwar keinen Gegenentwurf zum bestehenden
ökonomisch-politischen System, doch betrachten sie aufmerksam und in ruhigen
Einstellungen, was zwischen den Menschen und ihren Orten ist“, schreibt sie.
Die Filmemacher „fokussieren [..] die Erscheinungsformen der
‹Optimierungsgesellschaft›, hier siedeln sie allerdings darüber hinaus
Fiktionen an, beobachten mögliches Verhalten innerhalb der Mikrostrukturen einer gewissen Lebenswelt,
innerhalb eines kulturellen und stets auch
sozialen und ganz physischen Raums.“ Die Berliner Schule
erzieht zu einem genauen Blick, dazu, Fragen zu stellen; sie erzieht dazu,
Haltung einzunehmen, auch und gerade, wenn ihre Filme eine vorgeblich
distanzierend-beobachtende Perspektive einhalten.
Interessant natürlich: Diese Filme, die keine Aussicht auf
große Zuschauerresonanz haben – die also willentlich „materielle Opfer“
hinnehmen – werden zu großen Teilen vom deutschen Fernsehen finanziert. Das
Fernsehen als Schule des Sehens, des Erkennens, des Bewertens, des Geschmacks –
zumindest im Kino und auf Filmfestivals, für die, die sich aus dem Haus bemühen
und Eintritt bezahlen. Im eigenen Hause – im Kanal, der auf den Bildschirm ins
Wohnzimmer führt – werden diese Filme freilich eher zurückhaltend behandelt und
im Spätprogramm versteckt. Sie bringen ja keine Quote. Sie werden nachts
versendet. Denn im Fernsehen hat Geschmack – oder seine Erziehung – nichts
verloren.
Harald Mühlbeyer
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