Montag, 4. Februar 2013

The Goebbels Experience #2: Die zweite von sieben Thesen: „Reinigung des Films von vulgärer Plattheit“


„Der Film muß sich freimachen von der vulgären Plattheit des bloßen Massenamüsements, darf dabei aber nicht die starke innere Beziehung zum Volke verlieren. Der Geschmack des Publikums ist keine unabänderliche Tatsache, die man als gegeben hinnehmen muß. Er ist erziehbar im guten wie im bösen Sinne.“ So zitieren die Herausgeber in der ANSICHTSSACHE-Einleitung den Goebbels-Jupp, und sie fahren fort: „und wie um uns Nachgeborenen einen Kick in Sachen bittere Ironie zu verschaffen, hat der hinkende Propagandist die Erziehbarkeit zum Guten wie zum Bösen durch Kursivschrift betont.“

Es ist dies die zweite These von Goebbels’ Lehrsätzen zum Film, mit dem Postulat, das Kino von vulgärer Plattheit zu reinigen – nichts ist dem Goebbels nämlich mehr zuwider! „An dem Willen, diese Erziehung auch praktisch und, wenn nötig, mit materiellen Opfern durchzuführen, entscheidet sich das künstlerische Gesicht des Films“, so führt er weiter aus. Was das im Klartext heißt? Vermutlich irgendwas aus dem Diskurs zwischen Anspruch und Unterhaltung, zwischen Popcorn und Arthouse; jedenfalls sieht Goebbels im Film den erzieherischen Auftrag, der auch dahin geht, das Publikum weiterzuführen, als es je geahnt hätte, gehen zu können; auf guten wie auf schlechten Pfaden. Film ist Lehrstoff (und zwar mit starker innerer Beziehung zum Volke), und Film kann den Geschmack des Publikums ändern – ist das nicht das Ideal des bewegten Bildes, das auch die 1970er bestimmte, als Filme – unter reger Teilnahme des Fernsehens – produziert wurden, weil sie produziert werden mussten, und nicht, weil sie von irgendeiner Zielgruppe mehr oder weniger vermeintlich gewollt werden?

Ist mit den materiellen Opfern, die diese Erziehung verlangt, eine wie auch immer geartete staatliche Förderung gemeint (wie sie in These 4 explizit aufgegriffen wird); oder geht es um das Zurückschrauben von Erwartungen an Zuschauerzahlen und – modern gesprochen – Einschaltquoten? Ist der Geschmack des Publikums nämlich noch nicht soweit, wie es dem Film vorschwebt, so wird der Film auch nicht angenommen werden. Erst langsam muss der Sinn für neue Ästhetik, neuen Inhalt, für das „neue künstlerische Gesicht des Films“ gestaltet werden, gehegt und gepflegt, bis er wachsen kann und sich verbreitet: Will der Film zu neuen Ufern der Seherfahrung führen, muss er mit kleinen Erwartungen anfangen – ob Goebbels das sagen will? Fehlende Zuschauer als Investition in die Zukunft des Films?

Man möge verzeihen: Selbstverständlich lese ich in Goebbels Dinge hinein, die er nicht gemeint hat; ihm ging es, nach allem, was er in den ihm verbleibenden Jahren schuf, um die Erziehung des Menschen im bösen Sinne, Film war von Anfang an als Teil der Nazipropagandamaschinerie gedacht. Doch natürlich kann man auf diesen verdrehten Ideen gut herumspringen, an diesem Stoff gut herumspinnen – das Interessante ist ja gerade, dass Goebbels vor knapp 80 Jahren schon Worte von sich gegeben hat, denen – lässt man ihnen genug Willkür angedeihen – locker ein Bezug zum Heute angedichtet werden kann.

Papa Goebbels beim familiären Fernsehabend
Große Teile des deutschen Films jedenfalls scheinen sich dem bloßen Massenamüsements verschrieben zu haben; und das Massenmedium überhaupt, das Fernsehen, sowieso. „Wenn ich am Montagabend anfange, Science Fiction zu spielen: Für wen denn bitteschön? Für die 500.000 Zuschauer, die das bei uns suchen? Wir wären ja verrückt, wenn wir es machen würden“, so zitiert Bernd Zywietz in seinem ANSICHTSSACHE-Beitrag „Irgendwie, immerhin“, einem Panoramblick auf das deutsche Fernsehen, Reinhold Elschot, Leiter der Hauptredaktion Fernsehspiel beim ZDF: „Sie können mit guten Stoffen immer wieder gut durchkommen. Es muss halt passen für den Sender, der die Pflicht hat, seinem Film viele viele Zuschauer zuzuführen.“ Diese Elschot-Aussage kommentiert Zywietz süffisant: „‚Zuschauer zuführen’, das klingt ein wenig nach Zuhälterei“; und recht hat er damit. Ist das nicht die vulgäre Plattheit, vor der Goebbels warnte? Dass Sender, die wegen Gebührenfinanzierung („materielle Opfer“) eigentlich nicht auf Zuschauerzahlen angewiesen sind, nichts anderes zu tun haben, als mit simpelsten Mitteln auf Zuschauerfang gehen zu wollen? Ob hier wohl noch irgendjemandes Geschmack im guten Sinne erzogen werden kann und soll? Doch wenn nicht hier, wo sonst?

Die sogenannte Berliner Schule andererseits ist die erste wirkliche stilbildende Bewegung in der deutschen Kinematographie der letzten Jahrzehnte. Wie auch immer man zu diesem Begriff steht, wie auch immer man argumentiert, ob es sich hier um eine filmemacherische Gemeinschaft handelt oder um ein schlichtes Zufallsprodukt des Zeitgeistes, der ähnliche Filme in einer ähnlichen gesellschaftlichen Lage herausfordert: Die Protagonisten der Berliner Schule glauben an eine Erziehbarkeit des Geschmacks, und vielleicht nicht nur des Geschmacks. Sie suchen nie gesehene Bilder, sie suchen den Blick der Analyse und Diagnose, um Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht Aufmerksamkeit auf sich, sondern ein Aufmerken für die Details, für die kleinen Stellschrauben im gesamtgesellschaftlichen Getriebe, und für die Auswirkungen, die ein kleiner Dreh daran verursachen kann.

Julia Quedzuweit beschreibt in ANSICHTSSACHE das Leben in der Optimierungsgesellschaft, und den besonderen Blick der Berliner-Schule-Filme und ihrer Macher auf diese Gesellschaft, die ständige Selbstverbesserung fordert, eine Gesellschaft der Individualisierung, der Vereinzelung. „[…] [D]iese liefern zwar keinen Gegenentwurf zum bestehenden ökonomisch-politischen System, doch betrachten sie aufmerksam und in ruhigen Einstellungen, was zwischen den Menschen und ihren Orten ist“, schreibt sie. Die Filmemacher „fokussieren [..] die Erscheinungsformen der ‹Optimierungsgesellschaft›, hier siedeln sie allerdings darüber hinaus Fiktionen an, beobachten mögliches Verhalten innerhalb  der Mikrostrukturen einer gewissen Lebenswelt, innerhalb eines kulturellen und stets auch
sozialen und ganz physischen Raums.“ Die Berliner Schule erzieht zu einem genauen Blick, dazu, Fragen zu stellen; sie erzieht dazu, Haltung einzunehmen, auch und gerade, wenn ihre Filme eine vorgeblich distanzierend-beobachtende Perspektive einhalten.

Interessant natürlich: Diese Filme, die keine Aussicht auf große Zuschauerresonanz haben – die also willentlich „materielle Opfer“ hinnehmen – werden zu großen Teilen vom deutschen Fernsehen finanziert. Das Fernsehen als Schule des Sehens, des Erkennens, des Bewertens, des Geschmacks – zumindest im Kino und auf Filmfestivals, für die, die sich aus dem Haus bemühen und Eintritt bezahlen. Im eigenen Hause – im Kanal, der auf den Bildschirm ins Wohnzimmer führt – werden diese Filme freilich eher zurückhaltend behandelt und im Spätprogramm versteckt. Sie bringen ja keine Quote. Sie werden nachts versendet. Denn im Fernsehen hat Geschmack – oder seine Erziehung – nichts verloren.

Harald Mühlbeyer

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