Wenzel Storchs Schatz ist seine Kindheit. Oder besser: Das,
was ihm als Kindheit aufgezwungen wurde. Strenger Katholizismus zum Beispiel,
oder hochalberne Popstars mit hochalbernen Bravo-Postern und hochalberner
Musik. Oder das wenige, was in einer wahlfreiheitsfreien Drei-Programme-TV-Welt
vor sich ging. Diesen Schatz hebt er in multimedialer Form: als Film; als
Glosse, Satire, Rezension, Porträt etc. – kurz: literarisch; als krude
skizzierte Strichzeichnung; in Vorträgen, Lesungen etc.; oder auch mal im
Interview, beispielsweise in ANSICHTSSACHE.
Wer nun das eine oder andere Mal auf die eine oder andere
Art über Storch stolpert und wer sich mehr oder weniger, direkt oder indirekt
angesprochen fühlt, der kann an jeder beliebigen Stelle in das storch’sche
Universum einsteigen. Denn Storchs Welt ist in sich konsistent, von überall aus
kann man alles erforschen.
Wer etwa schon mal einen Storch-Film gesehen hat; oder wer
sein 2009 erschienenes Buch „Der Bulldozer Gottes“ gelesen hat – der wird kaum
von den Qualitäten von „Das ist die Liebe der Prälaten“ überzeugt werden
müssen. Dieses jüngst erschiene Werk versammelt in der Hauptsache Storchs Konkret-Essays,
dazu wie gehabt einige Werke der Bildenden Kunst sowie weitere Texte zur
Popkultur – und selbstverständlich eine Unmenge an Fotomaterial.
Weshalb die Lektüre auch so lange dauert – weil man ständig
zum Abbildungsverzeichnis blättert, wo denn nun dieses bizarre Bildchen wieder
her ist, vom obskuren japanischen Monsterfilmstill über merkwürdige alte
Katalogbildchen bis zu bizarren Lustbildchen diverser Phalli – und nicht nur
symbolisch verbrämter…
Das Schöne an Storch-Texten ist nicht nur seine treffende
Art von Porträtierung und Polemik, sondern auch die Erweiterungen, die er
seinen Themen angedeihen lässt – durch die Fotos, oft an den Haaren
herbeigezogen und doch irgendwo mit loser inhaltlicher Verknüpfung (und wenn
sie nur auf die Komik zielt). Und durch die kenntnisreichen Verweise auf die
Literaturgeschichte, vornehmlich auf Kunst- und Populärromane des 19.
Jahrhunderts, von Franz Werfel über Adalbert Stifter bis Karl May. Verweise,
die treffliche kulturelle Brücken sind und auf den größeren Zusammenhang
verweisen, den Storch in seinem Werk verkörpert: Alles hängt mit allem
zusammen, und alles ist einer Betrachtung wert. Sie muss ja nicht wohlwollend
sein.
So geht Storch, gleich im ersten Text, auf die Natur ein;
genauer: auf das Besingen der Natur durch Hannes Wader, mit „Rohr im Wind“ von
seiner dritten Platte „7 Lieder“, 1972. Genauer – und zwar tatsächlich mit
äußerst präziser Wortfindung und -setzung – auf die tatsächlichen oder nur
behaupteten, höchst pubertären Phallussymbole im Text, bebildert mit
entsprechenden Fotos und sich auswachsend auf eine durch und durch versaute
Botanik, „auf den Rohrkolben, im Volksmund auch als Lampenputzer, Schlotfeger
oder Pompesel bekannt, mancherorts wird das Gewächs auch Pfaffenpint gerufen –
ein Kosename, des sich der Große Rohrkolben mit Giftpflanzen wie Fieberwurz und
Aaronstab teilt.“ Kurz: „Ob Hannes Wader seinen alten Biolehrer konsultiert
hat, bevor er sich an den Text gesetzt hat?“
Sex: ein wichtiges Thema. Beispielsweise in der katholischen
Aufklärungsliteratur der Nachkriegszeit, auf die sich der Buchtitel bezieht, mit diversen schriftstellernden
Patern, die literarische Pater erfinden, um der Jugend den Pfad der Tugend zu
weisen. Diverse Schriften für Jungens und Mädels, aus denen Storch gekonnt und
gezielt die pädophilen Spreizungen herauszieht, als Trüffelschwein für
schweinischen Subtextes.
Storch ist ein Zweitverwerter, ein Sekundärliterat, der
mediale Ausformungen des menschlichen Geistes – und wenn dieser noch so
schwächlich ist – mit beiden Händen anpackt, um und um dreht, erforscht und auf
die Müllhalde der Geschichte, seiner Geschichten purzeln lässt. Ob Wadersong
oder Paterbuch oder Robert Crumbs Comic-Genesis. Und natürlich auch
Audiovisuelles.
So unternimmt Storch eine ausführliche Reise ins Land der
Haarmenschen – und übernimmt damit die ehrenvolle Aufgabe, erstmals überhaupt
die Geschichte des „Beat Club“ aufzuarbeiten, von der beklagenswert grauen
Zeit, in der Pop im TV nicht stattfand bis zu den visuellen
Exzentrikexplosionen von Produzent Michael Leckebusch, der die Performances
seiner Bands – von Billig-Musik bis zu Großstars – mit elektronischem
Bildersalatsoße überschüttete.
Und er betrachtet ganz genau den Neger in Form von GünterWallraff in Form von Kwami Ogonno,
der schwarzbemalt seine deutschen Mitmenschen nervt und deren Reaktion, mit
heimlicher Kamera gefilmt, als ganz schlimmen Rassismus deutet – Storch aber
kennt seinen Karl May, seinen Wilhelm Raabe, seinen Struwwelpeter und
Achternbusch und weiß den Wallraff einzuschätzen – als der, der mit den
rassischen Klischees spielt. Und er fügt ein schönes Immanuel-Kant-Zitat bei:
„Die Neger werden weiß geboren, außer ihren Zeugungsgliedern und einem Ringe um
den Nabel, die schwarz sind.“ Weiß der Weise aus Königsberg.
Die schreiberische Methode Storchs ist hochüberraschend und
hochkomisch – weil die Gegenstände seines Schreibens hochamüsant sind, und weil
sein mäandernder, assoziativer Stil hocherstaunlich ins Schwarze trifft.
In der „Beat Club“-Story beginnt er abrupt – nach
glückseligem Beschreiben von Stimme und Aussehen des Sängers von Ohio
Express – ein völlig neues Thema: „Wollten wir unseren Onkels und Tanten
glauben, dann war es immer wieder ein kleines Wunder, daß die Sendung überhaupt
stattfinden konnte. Angeblich kamen all die Taugenichtse und Tagediebe ‚nach
eigenem arbeitsscheuen Dünken’ in den Club – um das Wort eines fleißigen Mannes
zu gebrauchen“ – der wiederum Peter Hacks heißt und in seinem „Krippenspiel“ Maries
Baby seinen Herodes eine Hasspredigt wider die Faulheit halten lässt;
während ja, so Storch, Brecht den Müßiggang gerühmt habe.
Und im Übrigen: „Jungs, die dufte Eltern hatten, bekamen um
1970 – das neue Jahrzehnt sollte das bunteste des Jahrhunderts werden – bemalte
Fahrräder zum Fest, und Mädchen schrieben nach den Weihnachtsferien ihre
Mathearbeiten mit dem ‚zärtlichsten Gänsekiel der Welt’“ – so Storch in einem
weiteren Sprung weiter, der sowohl Umweg als auch Fortschritt ist in seiner
Argumentation. Weil er nun auf einen Hamburger Polizistensohn kommt, der 1973
den Goethe-Preis erhielt und seine Frau in der Paulskirche eine Dankadresse
halten ließ, in seinem Namen. „Darin nahm Arno Schmidt [um den es sich hier
nämlich handelt], der sich lange genug am ‚bunten Moreskenzug unser Teenager’
erfreut hatte, zu Tagesfragen Stellung, speziell zur 40-Stunden-Woche. ‚Unser
ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend’, sei ‚typisch unterarbeitet’,
klagte Frau Schmidt und schlug im Namen des Gatten die 100-Stunden-Woche vor.
‚Ansichten eines Snobs’ nannte das Gerhard Zwerenz in der Nacktpostille das
da.“
Absatz. Denn nun befindet sich Storch da, wo er hinwollte:
„Hätte das Ehepaar Schmidt bloß drei Jahre vorher, am Nachmittag des 15. August
1970, den Fernseher eingeschaltet! Dann wäre ihm ein Licht aufgegangen und es hätte
milder über die Jugend geurteilt. Denn an diesem Tage besuchten Jethro Tull
den „Beat Club“, eine Truppe, bei deren Gestaltung die Natur verrückt gespielt
hatte.“ Damals nämlich brachten die Tulls und Frontman Ian Anderson („als ‚Hans
Huckebein, der Blues-Rabe’ führt in das berühmte Rock-Lexikon“, weiß
Storch zu berichten) ihr „Nothing is Easy“ zu Gehör. Währenddessen wurde per
eingeblendeter Schrift der „Arbeitsplan der Band von Januar bis Juni 70“
mitgeteilt: „‚In 6 Monaten hatte die Gruppe 9 freie Tage’, lesen wir bestürzt,
und daß ‚1 Woche = 7 Arbeitstage’ sind, hätte der sprechende Sack Schockschock
nicht besser ausrechnen können (hinter dem sich, Augsburger-Puppenkiste-Freunde
wissen es, Kater Mikesch aus Holleschitz verbirgt).“
Ist das nicht ein schöner Textfluss? Vom längst Vergessenen
zum Rockklassiker, über Hacks und Brecht und Schmidt mit eingestreutem
thematischem Schwadronieren über die Faulheit der Jugend, was ganz nebenbei das
Klima expressiver Generationenkonflikte ausdrückt. Um schließlich im Folgenden mit
Rekurs auf das Geniale und das Genialische auf Vanilla Fudge und
„Geniedarsteller“ Mark Stein zu sprechen zu kommen und die in den NDR-Beat
Club eingestreuten WDR-Filmbeiträge über „jugendspezifische Themen“ zu
beschreiben, also wieder die historische Entwicklung der TV-Sendung in den
Blick nimmt.
Mit weitschweifenden Umwegen direkt zur Sache kommen: Ein
feines, ziselierte Schreiben eignet Wenzel Storch; auch wenn man’s auf den
ersten Blick gar nicht glauben möchte.
Harald Mühlbeyer
Wenzel Storch: Das ist die Liebe der Prälaten. Mainz 2013. 270 Seiten, unheimlich viele Abbildungen, 18,90 Euro.
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