Dienstag, 14. Mai 2013

Wenzel Storch: "Das ist die Liebe der Prälaten"

Wenzel Storchs Schatz ist seine Kindheit. Oder besser: Das, was ihm als Kindheit aufgezwungen wurde. Strenger Katholizismus zum Beispiel, oder hochalberne Popstars mit hochalbernen Bravo-Postern und hochalberner Musik. Oder das wenige, was in einer wahlfreiheitsfreien Drei-Programme-TV-Welt vor sich ging. Diesen Schatz hebt er in multimedialer Form: als Film; als Glosse, Satire, Rezension, Porträt etc. – kurz: literarisch; als krude skizzierte Strichzeichnung; in Vorträgen, Lesungen etc.; oder auch mal im Interview, beispielsweise in ANSICHTSSACHE.

Wer nun das eine oder andere Mal auf die eine oder andere Art über Storch stolpert und wer sich mehr oder weniger, direkt oder indirekt angesprochen fühlt, der kann an jeder beliebigen Stelle in das storch’sche Universum einsteigen. Denn Storchs Welt ist in sich konsistent, von überall aus kann man alles erforschen.
Wer etwa schon mal einen Storch-Film gesehen hat; oder wer sein 2009 erschienenes Buch „Der Bulldozer Gottes“ gelesen hat – der wird kaum von den Qualitäten von „Das ist die Liebe der Prälaten“ überzeugt werden müssen. Dieses jüngst erschiene Werk versammelt in der Hauptsache Storchs Konkret-Essays, dazu wie gehabt einige Werke der Bildenden Kunst sowie weitere Texte zur Popkultur – und selbstverständlich eine Unmenge an Fotomaterial.

Weshalb die Lektüre auch so lange dauert – weil man ständig zum Abbildungsverzeichnis blättert, wo denn nun dieses bizarre Bildchen wieder her ist, vom obskuren japanischen Monsterfilmstill über merkwürdige alte Katalogbildchen bis zu bizarren Lustbildchen diverser Phalli – und nicht nur symbolisch verbrämter…

Das Schöne an Storch-Texten ist nicht nur seine treffende Art von Porträtierung und Polemik, sondern auch die Erweiterungen, die er seinen Themen angedeihen lässt – durch die Fotos, oft an den Haaren herbeigezogen und doch irgendwo mit loser inhaltlicher Verknüpfung (und wenn sie nur auf die Komik zielt). Und durch die kenntnisreichen Verweise auf die Literaturgeschichte, vornehmlich auf Kunst- und Populärromane des 19. Jahrhunderts, von Franz Werfel über Adalbert Stifter bis Karl May. Verweise, die treffliche kulturelle Brücken sind und auf den größeren Zusammenhang verweisen, den Storch in seinem Werk verkörpert: Alles hängt mit allem zusammen, und alles ist einer Betrachtung wert. Sie muss ja nicht wohlwollend sein.

So geht Storch, gleich im ersten Text, auf die Natur ein; genauer: auf das Besingen der Natur durch Hannes Wader, mit „Rohr im Wind“ von seiner dritten Platte „7 Lieder“, 1972. Genauer – und zwar tatsächlich mit äußerst präziser Wortfindung und -setzung – auf die tatsächlichen oder nur behaupteten, höchst pubertären Phallussymbole im Text, bebildert mit entsprechenden Fotos und sich auswachsend auf eine durch und durch versaute Botanik, „auf den Rohrkolben, im Volksmund auch als Lampenputzer, Schlotfeger oder Pompesel bekannt, mancherorts wird das Gewächs auch Pfaffenpint gerufen – ein Kosename, des sich der Große Rohrkolben mit Giftpflanzen wie Fieberwurz und Aaronstab teilt.“ Kurz: „Ob Hannes Wader seinen alten Biolehrer konsultiert hat, bevor er sich an den Text gesetzt hat?“

Sex: ein wichtiges Thema. Beispielsweise in der katholischen Aufklärungsliteratur der Nachkriegszeit, auf die sich der Buchtitel bezieht, mit diversen schriftstellernden Patern, die literarische Pater erfinden, um der Jugend den Pfad der Tugend zu weisen. Diverse Schriften für Jungens und Mädels, aus denen Storch gekonnt und gezielt die pädophilen Spreizungen herauszieht, als Trüffelschwein für schweinischen Subtextes.

Storch ist ein Zweitverwerter, ein Sekundärliterat, der mediale Ausformungen des menschlichen Geistes – und wenn dieser noch so schwächlich ist – mit beiden Händen anpackt, um und um dreht, erforscht und auf die Müllhalde der Geschichte, seiner Geschichten purzeln lässt. Ob Wadersong oder Paterbuch oder Robert Crumbs Comic-Genesis. Und natürlich auch Audiovisuelles.

So unternimmt Storch eine ausführliche Reise ins Land der Haarmenschen – und übernimmt damit die ehrenvolle Aufgabe, erstmals überhaupt die Geschichte des „Beat Club“ aufzuarbeiten, von der beklagenswert grauen Zeit, in der Pop im TV nicht stattfand bis zu den visuellen Exzentrikexplosionen von Produzent Michael Leckebusch, der die Performances seiner Bands – von Billig-Musik bis zu Großstars – mit elektronischem Bildersalatsoße überschüttete.
Und er betrachtet ganz genau den Neger in Form von GünterWallraff in Form von Kwami Ogonno, der schwarzbemalt seine deutschen Mitmenschen nervt und deren Reaktion, mit heimlicher Kamera gefilmt, als ganz schlimmen Rassismus deutet – Storch aber kennt seinen Karl May, seinen Wilhelm Raabe, seinen Struwwelpeter und Achternbusch und weiß den Wallraff einzuschätzen – als der, der mit den rassischen Klischees spielt. Und er fügt ein schönes Immanuel-Kant-Zitat bei: „Die Neger werden weiß geboren, außer ihren Zeugungsgliedern und einem Ringe um den Nabel, die schwarz sind.“ Weiß der Weise aus Königsberg.

Die schreiberische Methode Storchs ist hochüberraschend und hochkomisch – weil die Gegenstände seines Schreibens hochamüsant sind, und weil sein mäandernder, assoziativer Stil hocherstaunlich ins Schwarze trifft.
In der „Beat Club­“-Story beginnt er abrupt – nach glückseligem Beschreiben von Stimme und Aussehen des Sängers von Ohio Express – ein völlig neues Thema: „Wollten wir unseren Onkels und Tanten glauben, dann war es immer wieder ein kleines Wunder, daß die Sendung überhaupt stattfinden konnte. Angeblich kamen all die Taugenichtse und Tagediebe ‚nach eigenem arbeitsscheuen Dünken’ in den Club – um das Wort eines fleißigen Mannes zu gebrauchen“ – der wiederum Peter Hacks heißt und in seinem „Krippenspiel“ Maries Baby seinen Herodes eine Hasspredigt wider die Faulheit halten lässt; während ja, so Storch, Brecht den Müßiggang gerühmt habe.
Und im Übrigen: „Jungs, die dufte Eltern hatten, bekamen um 1970 – das neue Jahrzehnt sollte das bunteste des Jahrhunderts werden – bemalte Fahrräder zum Fest, und Mädchen schrieben nach den Weihnachtsferien ihre Mathearbeiten mit dem ‚zärtlichsten Gänsekiel der Welt’“ – so Storch in einem weiteren Sprung weiter, der sowohl Umweg als auch Fortschritt ist in seiner Argumentation. Weil er nun auf einen Hamburger Polizistensohn kommt, der 1973 den Goethe-Preis erhielt und seine Frau in der Paulskirche eine Dankadresse halten ließ, in seinem Namen. „Darin nahm Arno Schmidt [um den es sich hier nämlich handelt], der sich lange genug am ‚bunten Moreskenzug unser Teenager’ erfreut hatte, zu Tagesfragen Stellung, speziell zur 40-Stunden-Woche. ‚Unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend’, sei ‚typisch unterarbeitet’, klagte Frau Schmidt und schlug im Namen des Gatten die 100-Stunden-Woche vor. ‚Ansichten eines Snobs’ nannte das Gerhard Zwerenz in der Nacktpostille das da.“
Absatz. Denn nun befindet sich Storch da, wo er hinwollte: „Hätte das Ehepaar Schmidt bloß drei Jahre vorher, am Nachmittag des 15. August 1970, den Fernseher eingeschaltet! Dann wäre ihm ein Licht aufgegangen und es hätte milder über die Jugend geurteilt. Denn an diesem Tage besuchten Jethro Tull den „Beat Club“, eine Truppe, bei deren Gestaltung die Natur verrückt gespielt hatte.“ Damals nämlich brachten die Tulls und Frontman Ian Anderson („als ‚Hans Huckebein, der Blues-Rabe’ führt in das berühmte Rock-Lexikon“, weiß Storch zu berichten) ihr „Nothing is Easy“ zu Gehör. Währenddessen wurde per eingeblendeter Schrift der „Arbeitsplan der Band von Januar bis Juni 70“ mitgeteilt: „‚In 6 Monaten hatte die Gruppe 9 freie Tage’, lesen wir bestürzt, und daß ‚1 Woche = 7 Arbeitstage’ sind, hätte der sprechende Sack Schockschock nicht besser ausrechnen können (hinter dem sich, Augsburger-Puppenkiste-Freunde wissen es, Kater Mikesch aus Holleschitz verbirgt).“

Ist das nicht ein schöner Textfluss? Vom längst Vergessenen zum Rockklassiker, über Hacks und Brecht und Schmidt mit eingestreutem thematischem Schwadronieren über die Faulheit der Jugend, was ganz nebenbei das Klima expressiver Generationenkonflikte ausdrückt. Um schließlich im Folgenden mit Rekurs auf das Geniale und das Genialische auf Vanilla Fudge und „Geniedarsteller“ Mark Stein zu sprechen zu kommen und die in den NDR-Beat Club eingestreuten WDR-Filmbeiträge über „jugendspezifische Themen“ zu beschreiben, also wieder die historische Entwicklung der TV-Sendung in den Blick nimmt.

Mit weitschweifenden Umwegen direkt zur Sache kommen: Ein feines, ziselierte Schreiben eignet Wenzel Storch; auch wenn man’s auf den ersten Blick gar nicht glauben möchte.


Harald Mühlbeyer


Wenzel Storch: Das ist die Liebe der Prälaten. Mainz 2013. 270 Seiten, unheimlich viele Abbildungen, 18,90 Euro.

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