Um den deutschen Film ist es gut bestellt. Sicher, dieser Schluss ist subjektiv und, zugegeben, nicht alles habe
ich sehen können. Aber die Filme mit Kennzeichen D, die ich gesehen habe, die
können sich – nun ja – sehen lassen. Auch zahlenmäßig lässt sich ein positiver
Trend ausmachen, zumindest wenn man auf die Haupt- und Vorzeigesektion der
Internationalen Filmfestspiele, den Wettbewerb, blickt. Waren darin letztes
Jahr lediglich Thomas Arslans GOLD und LAYLA FOURIE von Pia Marais vertreten,
sind es 2014 doppelt so viele Anwärter auf den Goldenen Bären gewesen. Mehr noch,
wenn man George Clooneys verunglückten MONUMENTS MEN als deutsche Co-Produktion
mit einrechnet. Man müsste dann allerdings auch Wes Andersons gefeierten
Berlinale-Eröffner und Grand-Jury-Preisträger GRAND BUDAPEST HOTEL, der u.a. vom
Medienboard Berlin-Brandenburg und der baden-württembergischen MFG bezuschusst
und in Babelsberg, Görlitz und sonst wo in Sachsen gedreht wurde,
mitberücksichtigen. Außerdem Lars von Triers überraschend witziger und
berührender NYPHOMANIAC VOL. 1 sowie STRATOS (bzw.: TO MRKO PSARI), den Beitrag
von Yannis Economides, der von einem Auftragsmörder im von der Finanzkrise
zerrütteten Griechenland handelt (was den deutschen Unterstützersummen der FFA
und der Film- und Medienstiftung NRW für diesen Film durchaus etwas Ironisches verleiht).
Aber hier sei nicht von schnödem
Kraut-Funding mit Regionaleffekt oder dergleichem die Rede, sondern von genuinen
deutschen Filmen (wie immer man die im Detail als solche definieren mag, etwa
über den/die RegisseurIn oder die Themen). Neben JACK (HIER besprochen) sind das
im Wettbewerb der Berlinale 2014 Dominik Grafs DIE GELIEBTEN SCHWESTERN,
KREUZWEG von Dietrich Brüggemann und Feo Aladags ZWISCHEN WELTEN. Daneben
präsentierte die Sektion Panorama Entdeckungen und Empfehlenswertes, darunter
Maximilian Erlenweins hard-boiled Thriller
STEREO und ÜBER-ICH UND DU von Benjamin Heisenberg (SCHLÄFER, RÄUBER); außerdem
– der Name sagt es – die Perspektive Deutsches Kino, in der vor allem ZEIT DER
KANNIBALEN von Johannes Naber (DER ALBANER) ein schwarzkomisches Muss war und
ist.
Sicher sind nicht alle diese und
der andere hiesigen Werke (gleich) gelungen. Insgesamt jedoch zeigte sich der
aktuelle deutsche Film in Berlin als überraschend vielfältig, weniger
festivalgenerisch bieder und darin auch noch erstaunlich profund und gelungen.
Nach Saarbrücken also setzt sich die Glückssträhne, wohl mehr aber noch der Entwicklung
in Sachen Vielfalt und Güte des heimischen Kinos fort. Eines, das sich anschickt,
nicht zuletzt im Ausland an Beachtung und Renommee (hinzu) zu gewinnen.
1. KREUZWEG
Dietrich Brügge zum Retter des jüngeren
deutschen Kinos, quasi zum „Brügge Man“, auszurufen, der die Gräben zwischen
Anspruchskino, Festivalkino und Unterhaltungskomödie jenseits der gereihten
Gags schließt, dürfte etwas hochgegriffen sein. Ein Hoffnungsträger scheint er aber
allemal, hat er doch mit seinen letzten beiden Filmen, RENN, WENN DU KANNST und
vor allem dem einnehmenden DREI ZIMMER/KÜCHE/BAD durchaus etwas zu sagen und zu
zeigen gehabt, was das Leben und vor allem die Lebensstimmungen und -findungsschwierigkeiten
der Anfang-, Mitte-20-Jährigen betrifft. Gerade im letztgenannten Film, der die
Generationsstimmung in der Situation des wiederkehrenden Wohnungsumzugs so
symbolisch wie szenisch-narrativ und ganz konkret aufgriff und einfasste, war
Brüggemanns Botschaft, laut Rüdiger Suchsland auf Artechock, eine „sympathische Verteidigung der Vorläufigkeit“.
Brüggemann als Chronist wäre an sich aber nicht so spannend ohne seine
Handschrift und dem damit verknüpften, kindlich-entdeckungsneugierigen, aber
nicht pubertären Humor, der sich stets durch ein Moment des Arrangierten, des
Gestellten und Gesetzten auszeichnet. Die Bilder sind klar und mit dem Hang
(wenn nicht: Liebe) zur Geometrie komponiert, ebenso die Figuren, die – das überrascht
– darin nicht ihre Lebendigkeit verlieren, sondern erst behaupten, erstreiten, erlangen.
Brüggemann ist kein Komiker, aber seine Weltsicht ist selbst im Drama eines trocken-sarkastischen
Querschnittsgelähmten (Robert Gwisdek in RENN, WENN DU KANNST) eher die eines
Jaques Tatis oder Buster Keaton denn eines Chaplins.
Diese einfallsreiche, zugleich
virile und bisweilen sehr pointierte „Steifheit“ hat den einen oder anderen
Kritiker zumindest im Trailer zur KREUZWEG aufs Glatteis geführt. Denn
Brüggemann hatte letztes Jahr einiges Aufsehen erregt (und uns mit dem Verweis
darauf die höchste Click-Zahl beschert), als er auf seinem Blog zur
letztjährigen Berlinale gegen die „Berliner Schule“ und dabei auch Arslans GOLD
wetterte. Und nun erweckte er mit KREUZWEG (der nun – auch so eine Ironie der
Festivalgeschichte – selbst im Wettbewerb lief) bei dem einen oder anderen
Schreiber vorab den Eindruck, sich selbst auf das gleiche filmische Terrain zu
begeben. Der Verdacht war unbegründet. Zusammen mit seiner Schwester und
Co-Autorin, der wunderbaren Schauspielerin Anna Brüggemann, ist er formal, gar
formalistisch zurückgekehrt zu seinem ersten Spiel- und
HFF-Potsdam-Abschlussfilm NEUN SZENEN von 2006. NEUN SZENEN: In acht langen,
statischen, ununterbrochenen Einstellungen und einer ebenfalls ungeschnittenen Plansequenz
(eine Fahrt durch den Park) wird episodisch, die Figuren ablösend und ihre
Wegen überschneidend, von Orientierungslosigkeit und den Beziehungssorgen der
Post-Abitur-Zeit erzählt. Das hatte inhaltlich wie formalästhetisch noch etwas
von Experiment mit unverkünsteltem Appeal und gelungener Übung. Entsprechend
spannend ist es nun, wie sich Brüggemann mit dem selben Ansatz einem ganz
anderen, ernsteren Thema in KREUZWEG widmet. Aus neun sind vierzehn Szenen geworden (gedreht in ebensovielen Tagen),
die Stationen des Weges Jesu zum Kreuz und darüber hinaus eben, die als solche
im Film selbst jeweils (und bisweilen boshaft) kapitelhaft tituliert sind. „Jesus
wird zum Tode verurteilt“ (der Firmungsunterricht), „Jesus nimmt das Kreuz auf
seine Schultern“ etc. in starren Halbtotalen, in Räumen, einmal im Auto,
schließlich eine Fahrt in der Kirche, eine Kamerakranfahrt ganz am Ende.
KREUZWEG ist, so Brüggemann, kein
Religions-Bashing, aber es fehlt schwer, gerade in der gewählten Form (oder aus
ihr heraus) zumindest keine bissige Ironie zu verspüren und sie bei aller
Tragik der Geschichte zu genießen. Ein bisschen erscheint KREUZWEG wie ein Gegenentwurf
zu und doch entfernter Geistesverwandter von Katrin Gebbes an die Nieren
gehenden TORE TANZT. Es ist eine Opfergeschichte eines jungen Menschen, der
seinen religiösen Glauben (zu) ernst nimmt und in voller Konsequenz leidend
durchexerziert. Wobei sowohl Gebbe wie Brüggemann – die eine mehr, der andere etwas
weniger – den Zuschauer wahlweise spöttisch oder unbequem Berechtigung dieses
Passionswegs qua bestätigender Erfüllung und Sinn mit kleiner Geste beigeben.
Die Brüggemanns diffamieren mit
KREUZWEG Religion und katholische oder sonstwelche Lebensführung nicht, sie
führen weder den jungen Priester vor, noch stilisieren sie die von Franziska
Weisz fabelhaft gespielten Mama zur fanatisch eifernden Mutter einer CARRIE, im
Gegenteil. Aber sie nehmen klar Partei, zeigen zumindest unaufdringlich Mitleid
für die Seelennöte ihrer jungen Protagonistin und üben darüber deutlich, wenn
auch „unausgesprochen“ und zwangsweise Kritik an der Erziehungsbeengung und
Indoktrination von ungeschützten jungen Seelen, denen, wie eben hier in Marias Fall,
leider keine reelle negative Religionsfreiheit zukommt. Eine Freiheit eben
nicht nur für, sondern auch gegen den oder zumindest ein Stückweit vor dem reglementierenden
Glauben. Eine Freiheit, die im Privaten unterhalb des Radars von Erziehern,
Jugendämtern, Ärzten, allzu leicht, blind und dummerweise in bester Absicht fatal
verwehrt wird.
Umso mehr schmerzt es, zuzusehen,
wie diese Opfer-Figur Maria nicht nur in dem clever und dicht gewebten Netz dogmatischen
Argumentationen und einer Selbstreflexivität, die zur permanenten Skepsis der
eigenen Beweggründe noch im Handeln unter den Vorgaben des Gebotsregimes
auffordert, eingewickelt ist, sondern wie sie dieses selbst noch letztlich über
die Maße hinaus weiterspinnt, all die Forderungen und die Hingabe übererfüllt.
Und zwar so, dass sie praktisch nichts macht. KREUZWEG ist damit auch eine
kleine, recht einfache und deshalb so wirksame Parabel über die Mechanismen des
Fundamentalismus und einem schnell verlorenen Kampf dagegen, einer, der selbst
einen für Gott gegen die verderbte Welt befiehlt. Und es ist ja nicht so, dass
diese blasse, schlaksige Maria nicht aufbegehren oder wenigstens einen Ausweg
suchen, besser gesagt: andenken und ausprobieren würde. Doch auch der kleine
und harmlose, mit einer Notschwindelei beförderte Versuch, den Kirchenchor des
netten Schulkameraden zu besuchen, endet schnell und das erbsündige
Schuldbewusstsein ins Konkrete, den Familienbund hinein, steigernd,
finalisierend. Und so wird Hingabe zur Aufgabe, Buße und Eigen-Geißelung zur Ich-Entsagung.
Ach, hätte sie sich doch als die missionarische Vorkämpferin gegenüber der
Mutter geriert, die gegen den Gospel des Mitschülers ankämpfen will, so wie es
ja der Priester anmahnte – vielleicht wäre sie durchgekommen. So aber wird sie
in eigener Sache zur eifrigen Avantgarde, die inneren Augen zum Himmel
gerichtet.
Das erscheint alles in seinem Thema
vielleicht etwas bemüht, auch anachronistisch, zu irrelevant zumindest in der
Blickrichtung. Hätten Dietrich und Anna Brüggemann, selbst (wenn auch moderat)
katholisch erzogen, vielleicht in gleicher Form, in ähnlicher Weise, von
Taliban und Jihadisten erzählen sollen oder können? Auf dass am Ende nicht das
Grab, sondern der Sprengstoffgürtel wartet? Wäre das möglich, erlaubt gewesen,
ein gänzlich anderer Film geworden? Der böse Fremde mit der Bombe statt einer
jungen, keuschen Dulderin? Aber auch im sogenannten Westen ist die religiöse
(mithin natürlich: christliche) Religion und ihr Freiheits- und Gestaltungsanspruch
wieder auf dem Vormarsch. Und insbesondere dahingehend KREUZWEG ist eine
generelle Auseinandersetzung mit dem Geltungsrang und dem Gültigkeitsraum von
Überzeugungen im modernen, pluralistischen Alltag und den Verwerfungslinien und
Reibungspunkten dazwischen. Wie viel Toleranz muss da, darf da sein, wie viel
an Partikularrecht? Der Film selbst reißt die Frage an, wenn im Sportunterricht
die Lehrerin für Maria die Popmusik ausschaltet und hernach ihre Not an mit den
kecken Buben, die es jetzt aber wissen wollen: Was, wenn meine Religion es
verbietet, am Sport teilzunehmen? So wie übrigens bei den muslimischen
Mitschülern?
Gerade aber was die spezifische
Religiosität Marias angeht, bekommt die Auflösung der Szenen in einzelne,
wenige Tableaus, die in NEUN SZENEN eher noch selbstzweckhafter wirkte, weil
ohne zwingenden thematischen Widerhall, in KREUZWEG eine bemerkenswerte formale
Bedeutung und entfaltet besondere Wirkung. Das ästhetische Konzept mag sich für
einen oder anderen in sehr den Vordergrund drängen. Doch selbst das lässt sich
KREUZWEG und Brüggemann gar nicht vorwerfen, denn das Ikonische, das eigentliche
oder metaphorische Bild(nis)hafte selbst ist dem Film ohnehin ebenso einreflektiert
wie dem Christentum und besonders dem Katholizismus, so dass sich Spott- und
Andachtsgemälden hier ineinanderschieben – nicht nur das des „Genres“ Kreuzweg
oder des Passionsspiels, sondern auch des Kinos selbst. Wenn also in der
letzten Einstellung das Grab schnöde mit einem kleinen Schaufelbagger in der
Herbstsonne zugeschüttet wird, lässt sich das lesen als letzter ironisch banalisierender
Kommentar, ein Seitenhieb, aber auch als verwahrende Abkehr von jener
filmischen Anrührungssprache, die Beerdigungen gerne und häufig mit
schwarzgewandeten Trauernden im Regen besetzt.
Nicht zu Unrecht also wurden Anna
und Dietrich Brüggemann für ihr KREUZWEG-Drehbuch mit dem Silbernen Bären 2014
ausgezeichnet. Am 20. März kommt der Film im Verleih von Camino in die Kinos.
zyw
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