Wir sind stolz.
Ansichtssache – Zum aktuellen deutschen Film ist
ungefähr der einzige gegenwärtige Reader zur deutschen Kinematographie, der
gleich als erstes mal den Herrn Goebbels zitiert. Da ist unsererseits natürlich
eine Menge Willkür dabei, eine gehörige Portion pubertärer Provokation, Widerspruchsgeist
gegen den ach so oft beschimpften Zeitgeist der political correctness.
Aber andererseits war Joseph Goebbels eben die Person, die den deutschen Film
geprägt hat wie keine andere; er hatte ja auch Machtmittel in der Hand wie
keine andere.
Joseph Goebbels bestellt sich ein Herrengedeck |
Und er hielt sich dabei für einen großen Filmtheoretiker,
denn klar: Jeder musste ihm zuhören, wenn er etwas sagte, und wenn er etwas
über den deutschen Film pfiff, tanzte die gesamte Filmindustrie dazu. Doch was
sagte er da, welchen Marsch pfiff er? Da lässt sich sicherlich keine stringente
Argumentation ausmachen; und sicherlich auch keine tiefsinnigen Erkenntnisse
(die zu verbreiten er ja auch qua Amt und umgeben von Jasagern gar nicht nötig
hatte).
Gut lesbar – im Gegensatz zu manchen seiner Reden an die
Reichsfilmschaffenden – sind seine sieben Film-Thesen von 1935, in denen
Goebbels kurz und prägnant seine Vorstellungen vom Kino und implizit seine
Ideen zum deutschen Kino darlegte. Die pendeln irgendwo zwischen Banalität und
Größenwahn, zwischen Oberflächlichkeit und Prägnanz. Und weil sie sich um
verschiedene Themen drehen, und zumal, weil sie sich bisweilen so lesen, wie
auch heutzutage über den deutschen Film geschrieben wird, lässt sich anhand
dieser goebbelsschen Ansichten ganz gut auch der aktuelle, heutige deutsche
Film anleuchten. Wenn auch vielleicht etwas schief und von der (rechten) Seite.
(Ich zitiere die Goebbels-Thesen nach Wilfried von Bredow / Rolf Zureck: Film
und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien. Hoffmann und
Campe, Hamburg 1975, S. 178 – 180.)
These 1: „Der Film hat seine eigenen Gesetze“
„Nur im Gehorsam gegen diese ihm eigenen Gesetze wird er
sein eigenes Gesicht wahren können. Diese Gesetze stammen nicht von der Bühne.
Der Primat der Bühne über den Film muss gebrochen werden.“
Das ist schon einmal gleich zu Anfang ein starkes Plädoyer
für das Kino, für das Kino als eigene Kunstform; man muss sich vergewärtigen,
dass noch in den 1920ern der Film kämpfen musste gegen die Anmutung als
Jahrmarktsattraktion (was ja eine Menge großer Kunstwerke, die noch heute als die
Klassiker des Films angesehen werden, hervorbrachte). Film war eine junge
Kunst, Film musste etabliert werden, und Goebbels tat dies von ganz oben. Und
er betont, dass die Definition von Film als Kunst auch ästhetische Konsequenzen
haben muss: „Die Bühne spricht ihre Sprache und der Film spricht seine
Sprache. Was im Dämmerlicht der Kulisse noch erträglich wirkt, das wird unter
dem harten Licht der Jupiterlampen vollends demaskiert.“
Wie genau nun diese postulierte Subtilität des Films sich
abheben soll von Bühneninszenierungen, wo konkret angesetzt werden kann gegen
eine Theaterhaftigkeit der filmischen Mise en Scene, das lässt er offen (als Reichsminister
kann er sich ja nicht um alles kümmern). Um freilich im nächsten Satz
klarzustellen:
„Zwar wird die Bühne, fußend auf ihrer jahrhundertealten
Überlieferung, mit aller Kraft versuchen, ihre Vormundschaft über den Film zu
halten. Es ist eine künstlerische Lebensfrage für den Film, sie dennoch zu
brechen und sich auf seine eigenen Füße zu stellen.“
Zweifelsohne sah sich Goebbels selbst als Krückenschnitzer
für die wackligen Beine des deutschen Films, und als tatkräftiger Helfer der
jungen, modernen gegen die traditionelle Kunstform.
Was er anspricht als Überheblichkeit des etablierten Theaters
gegenüber dem Emporkömmling Kino, das hat auch heute noch, in etwas anderer
Form, Hand und Fuß. Die (von Goebbels behaupteten) beharrenden Kräfte des
Theaters, gegen die er anargumentiert – stehen sie nicht analog dem E, das auch
heute noch allzu gerne gegen das U ausgespielt wird? (Und wenn der Vergleich
der beiden Diskurse hinkt, dann doch immerhin weniger als Goebbels selbst.) Allzu
gerne werden „Mainstream“ und „Hollywood“ verteufelt; allzu gerne wird Arthouse
über Popcorn gestellt. Intermedial, wenn Literatur pauschal ihren Verfilmungen
vorgezogen wird; international, wenn die Hegemonie amerikanischen Kommerzkinos
verflucht wird; national, wenn etwa Filmkritiker die Einseitigkeit der
Preisträger des deutschen Filmpreises auf der Kommerzseite verorten.
Diese dichotomischen Abgrenzungen haben natürlich ihre
Begründungen, inhaltlich, ästhetisch etc. Aber eben: Nur im Einzelfall, nicht
pauschal, nicht apodiktisch, nicht im System „Kunst“. Die Gleichung „sperrig =
gut“ ist halt ebenso falsch wie „gut = publikumsnah“, aber das ist gar nicht
der Punkt. Es geht – vielleicht auch, irgendwie, dem Herrn Propagoebbels –
darum: Über das als „niedrig“ Empfundene kann man nur reden, wenn man
hinabgestiegen ist. Nur dadurch kann das scheinbar Geringwertige die
Vormundschaft des Höhergeschätzten brechen, kann die „künstlerische Lebensfrage“
positiv beantworten (wenn es etwas Positives gibt, das wäre ja herauszufinden.)
Dann kann sich das, was missachtet wurde, prachtvoll erheben und seine ganze
Größe zeigen. (Außer natürlich, es wurde mit recht missachtet und nicht, weil
es was Neues, was Anderes, gar was Originelles war.)
Ob nun weiland die Bühne sich dem Film überlegen fühlte,
oder heutzutage im gebildeten Diskurs beispielsweise analog über digital oder
das Bildungs- über das Unterschichtenfernsehen gestellt wird: Man sollte seinen
Gegner kennen, wenigstens das.
Das Schöne daran ist, dass dieser Text an dieser Stelle psychologisch
geschickt und unbemerkt auf Werbung umschalten kann und dass Sie, ohne die
Manipulation zu bemerken, im Folgenden ganz subtil von den Qualitäten von Ansichtssache
– Zum aktuellen deutschen Film vollkommen überzeugt werden.
Denn in diesem herausragenden Reader gibt es beispielsweise den
Beitrag „Vom Experimentalroman zum ‚Lügenfernsehen’“ von Bernd Schon, der sich
mit der Auseinandersetzung über das scripted-reality-Format im Fernsehen
für die bildungsferneren Bevölkerungsschichten beschäftig. Am Beispiel von
„Familien im Brennpunkt“ (RTL) führt er die literarischen und filmischen
Traditionen von Realitäts- und Fiktionsvermengungen an, auf denen die als
„Sozialporno“ verschrienen Kleinformat-Sozialdramen fußen – etwa der
Naturalismus eines Emile Zola oder die filmischen Mischformen wie Mockumentary,
Dokusoap oder Dokudrama.
Bernd Zywietz wiederum wendet sich mit seinem Beitrag
„‘German Mumblecore‘ – Video, Digitalisierung und Improvisation – aktuelle
Freilandfilmer und ihre Welt“ solchen Filmemachern zu, die zwischen kommerziell
hochgezüchtetem Kommerz und einer Kino-Kunst der „Staatsknete“ (Klaus Lemke)
ihr eigenes Ding machen – und die dabei technisch, konzeptionell, filmsprachlich
wie inszenatorisch sich an einem eigenen freien Kino (oder zumindest Kino-Stil)
erfolgreich versuchen, irgendwo unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der
Etablierten. Dass und wie so etwas, nicht zuletzt dank der Digitalisierung,
möglich ist, hat freilich der Joseph G. nicht vorausgesehen.
Harald Mühlbeyer
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