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Dienstag, 29. Dezember 2015

Veranstaltung: "Kino machen andere" -VdFk-Woche der Kritik 2016

Der Verband der deutschen Filmkritik veranstaltet 2016 zum zweiten Mal die "Woche der Kritik" parallel zu den Berliner Filmfestspielen. Am Vorabend der Berlinale bzw. zum Auftakt der Veranstaltungsreihe nimmt der VdFk zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung sich des deutschen Kinos Lieblingsthema an: die Minderwertigkeit(sgefühle) des hiesigen Films. Die Pressemitteilung des VdFk hier nachfolgend; Die Website der "Woche der Kritik" finden Sie HIER (und dort sicher auch diese PM beizeiten).

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„KINO MACHEN ANDERE“ –
KONFERENZ UND 2. WOCHE DER KRITIK 2016

2015 wurde in Cannes, Locarno und Venedig ohne deutsche Filme gefeiert – im Vorfeld der zweiten WOCHE DER KRITIK steht deshalb das deutsche Kino im Mittelpunkt einer  Debatte, die sich den Ursachen dafür widmet.

KINO MACHEN ANDERE – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert
Nach einem gelungenen Debüt Anfang des Jahres wird auch 2016 parallel zur Berlinale wieder die WOCHE DER KRITIK stattfinden. Zusätzlich laden der Verband der deutschen Filmkritik (VdFk) und die Heinrich-Böll-Stiftung am Vorabend der Berlinale, dem größten Fest der deutschen Filmbranche, zu einer internationalen Konferenz über den Zustand der deutschen Filmkultur ein. Unter dem Titel „KINO MACHEN ANDERE – Warum der deutsche Film nur unter sich feiert“ diskutieren internationale Gäste über den anhaltenden Misserfolg deutscher Filme auf internationalen Festivals, der 2015 darin seinen Tiefpunkt fand, dass kein einziger deutscher Film in den Wettbewerben von Cannes, Venedig und Locarno vertreten war.

Die Konferenz findet am Mittwochabend, 10. Februar 2016 im Kulturquartier Silent Green (ex-Krematorium Wedding, Gerichtstr. 35, 13347 Berlin S+U-Bahn Wedding) statt. Charles Tesson, Leiter der Semaine de la Critique in Cannes, wird in seiner Keynote die Lage aus der Sicht eines wichtigen Festivalmachers beleuchten. Im Folgenden werden Symptome, Ursachen und Lösungsansätze aus internationaler und interdisziplinärer Perspektive debattiert. Zu den  weiteren Gästen gehören Richard Brody (Filmredakteur, The New Yorker), Sergio Fant (Auswahlkommission, Festival del film Locarno) und Lars Henrik Gass (Leiter, Internationale Kurzfilmtage Oberhausen).

WOCHE DER KRITIK
Vom 11. bis 18. Februar ist dann das Hackesche Höfe Kino in Berlin-Mitte wieder Treffpunkt der zweiten Ausgabe der WOCHE DER KRITIK. Sie bietet parallel zur Berlinale ein konzentriertes Filmprogramm, das an sieben Abenden zur intensiven Auseinandersetzung mit Kino, ästhetischen und erzählerischen Formen und deren politischen Rahmenbedingungen einlädt.
Die Kritikerwochen in Cannes, Venedig und Locarno sind schon lange Zeit integraler Bestandteil des jeweiligen Festivalprogramms. Die Verbindung von Filmerlebnis und Reflexion ist Alleinstellungsmerkmal der WOCHE DER KRITIK in Berlin. Gäste aus unterschiedlichen Ländern und verschiedensten Disziplinen bringen ihre Perspektiven dazu ein und machen die Veranstaltung zu einem lebendigen »Think Tank« während der Internationalen Filmfestspiele in der Hauptstadt.
Die WOCHE DER KRITIK ist eine Veranstaltung des Verbands der deutschen Filmkritik e.V. in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Kontakte: 

Woche der Kritik
Forian Fromm (Presse)
Bornsdorfer Straße 4
12053 Berlin
facebook.com/wochederkritik
Twitter: #wochederkritik

VdFk - Verband der deutschen Filmkritik e.V.
Frédéric Jaeger (Geschäftsführender Vorstand)
E-Mail:  buero@vdfk.de
Tel.: 030 555 79 737

Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Vera Lorenz (Presse)
Tel.: 030 285 34 217

Donnerstag, 7. Mai 2015

Nominierungen zum Deutschen Filmpreis 2015

Eine starke Finalauswahl für den Deutschen Filmpreis 2015 wurde nun bekanntgegeben: In Sachen "Bester Spielfilm" finden sich neben IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS: Sebastian Schippers VICTORIA, JACK von Edward Berger, WIR SIND JUNG, WIR SIND STARK sowie WHO AM I von Baran bo Odar und ZEIT DER KANNIBALEN. Eine bunte Mischung - und eine, die mit dem Hackerthriller WHO AM I und dem furiosen One-Shot-Gangsterfilm VICTORIA - zwei Genre-Werke berücksichtigt; drei, wenn man ZEIT DER KANNIBALEN, der dieses Jahr bereits beim Preis des Verbands der deutschen Filmkritik abräumte, mitzählt.

Die ganze Nominiertenliste HIER.

Die Preisverleihung findet am 19. Juni 2015 im Rahmen der Filmpreisgala statt.


WHO AM I

Donnerstag, 19. Februar 2015

Resümee der ersten "Woche der Kritik"

Die erste "Woche der Kritik" des VDFK, die parallel zu Berlinale stattfand, ist vorbei. Zu der gab es, von vornherein, Unmut. Die Betreiber selbst aber liefern ein nachdenkliches, nachdenkenswertes Fazit, das, jenseits einfallsloser Pressemeldungen zum unweigerlichen "Erfolg", wert ist, hier in Gänze wiedergegeben zu werden.

Besonders sei hier - wie am Ende der Meldung - auf den YouTube-Kanal der "Woche der Kritik" hingewiesen, in dem die langen spannenden Diskussionen nach den Filmvorstellungen als Aufzeichnungen nachzuholen oder sich noch mal zu Gemüte zu führen sind.

(zyw)
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Resümee der ersten Woche der Kritik – Zitate und Debatten

„Die Kritik muss ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. (...) Sie ist keine Etappe in einer Programmierung. Sie ist eine Herausforderung für das, was ist.“
Michel Foucault

Die Woche der Kritik ist auch nach sieben Tagen nicht abgeschlossen. Als eine Form der aktivistischen Filmkritik und cinephilen Debattenkultur kann sie nicht zu Ende gehen. Mit umfassenden Diskussionen, die im Kino Hackesche Höfe eine Woche lang lebhaft zwischen internationalen Filmkritikern, Regisseuren, Produzenten, Filmwissenschaftlern und Akteuren der Film- und Festivalwelt mit und vor großem Publikum geführt wurden, hat die erste Woche der Kritik einen Denk- und Aktionsraum geöffnet, der über die Veranstaltung hinaus wirken wird. 

Frédéric Jaeger, Leiter Woche der Kritik:

In der zweiten Hälfte der Woche gerieten unsere Debatten immer mehr aus den Fugen, wurden länger, widersprüchlicher und grundlegender. Da ist mir dann klar geworden, dass ein Anfang getan ist. Bezeichnenderweise war es der mit ‘Provokation’ überschriebene Abend, bei dem der Widerstand im Publikum und auf dem Podium erst so richtig spürbar wurde. Eine kleine Bestätigung für unser fragiles Experiment.
Am letzten Abend, der sich politischem Kino und der Möglichkeit nach Kontroversen widmete, gab es einen für mich sehr schönen Moment der Irritation.
Während des experimentellen Kurzfilms Man müsste Räuber sein oder zumindest Sprengmeister von Jan Bachmann, den wir vor Christoph Hochhäuslers Paranoia-Thriller Die Lügen der Sieger programmiert hatten, gab es im Saal eine hörbare Anspannung. Wir hatten mit Verspätung begonnen, weil die Vorstellung ausverkauft war und wir die Warteliste noch mit Karten versorgen wollten. Nach zehn Minuten wurde ein Lachen immer lauter und hörte nicht mehr auf. Ein Zuschauer bat die Person um Ruhe, mit dem Hinweis, wir seien im Kino. Da entgegnete diese, das sei doch gar kein Film. Mir scheint, wenn diese Wesensfrage mit solcher Inbrunst im Kinosaal gestellt wird, haben wir nicht alles falsch gemacht.”
Dennis Vetter, Programmteam Woche der Kritik:
“Auswählen, Präsentieren, Diskutieren sind Formen praktizierter Kritik. Man arrangiert bebilderte Ideen, man schließt ein und aus, man schärft ein Profil, um Filmkultur zu unterstützen und zu verhandeln. Man verschafft deutlichen Stimmen Gehör, weil sie wichtige Fragen aufwerfen. Wir haben uns gegen rund 100 Filme entschieden, zugunsten von 11 Programmbeiträgen.
Wenn jedoch Kritik selbst, das Hinterfragen von Systemen, zum Programm werden soll, was geschieht dann mit der Form? Sie müsste zerbrechen.
Für mich startete die Woche der Kritik mit dem Scheitern an der Form. Die Woche der Kritik hat versucht, dezent und verspielt, manchmal unbeholfen und ein bisschen schüchtern, die Festivalsituation zu irritieren. Im Prozess zeigte sich dann unmittelbar: Letztlich geht es in allen kulturkritischen Initiativen darum, zum Punkt zu kommen. Dass das vor dem Hintergrund unserer Kinokultur keineswegs leicht ist, zeigt die Tatsache, dass alle unsere Debatten eine Stunde überschritten, manchmal ihr Ziel erst ausloten mussten, oder es verloren.
Wir akzeptieren im Kinoraum keine Hierarchien. Wer bei uns mitredet, findet Gehör. Aber wohin führt der nächste Schritt?” 
Dunja Bialas, Programmteam Woche der Kritik:
“Wie sehr die Debatten infizieren, ja süchtig machen konnten, erlebte ich als schmerzliches Vermissen, wenn ich mich in den Raum begab, wo sie nicht stattfanden: auf dem Forum der Berlinale. Wie hier im Publikumsgespräch Filme in routinierter Manier abgefertigt und Regisseure wie Zirkuspferde vorgeführt wurden, zeigte, dass diese Art des Redens über Film keines mehr ist. Lieber dann über den Film schweigen. Infizierendes Denken: Fachbesucher der Woche der Kritik sprachen davon, unsere Debattenform weiterzutragen, auf anderen Festivals zu etablieren. Das tiefgehende Nachdenken über das, was man tut, sieht, sagt, auswählt, bevorzugt und zurückweist, entwickelte einen mitreißenden Sog.”
Die Woche der Kritik wird veranstaltet vom Verband der deutschen Filmkritik e.V. in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. 
Wir wollen an das Ende der Programmtage ein paar Zitate aus unseren Debatten stellen, ungeschliffen und aus dem Kontext gerissen.

Frédéric Jaeger - “Ulrich Gregor, I heard that you were offered, at least once, to become the head of the Berlin International Film Festival by the Berlin senate. And you refused.”
Ulrich Gregor - “Yeah, sure. There was such a possibility. But I said no, because I don't want to enter into an area which is not my area and where I have to make compromises, submit to pressures maybe and negotiate with people whom I don't like or have no connection with, where I have no feeling for their work or their output. It is a completely strange area for me.”

Hans Hurch:
"I'm not interested in film culture at all. (pause) I'm interested in the revolution. (laughter) It sounds very old fashioned. I'm not interested in film culture – I'm interested in changing the world. I know that I'm not strong enough, that I'm a petit bourgeois, that I can't do it by programming films but at least I got a little idea in the back of my head.”

Daniel Hoesl:
“A movie can be a gun. And we try to shoot them, you know. The movies and the bankers. And that's it.”

Rüdiger Suchsland:
“If people talk too much about politics, they want to avoid to talk about aesthetics.”

Jan Bachmann:
“When you ask why in film schools they don't experiment with forms, there is a very easy answer. Because if you experiment with forms, as we do it in the moment, it means that you're doing films as a hobby and not as a job. It's very simple, it's very clear. You know it when you start a project like this, it's not gonna have any perspective on the market. […] You take the risk by yourself, this is the point.”

Daniel Hoesl:
“If you have something to say, you have to do it. Don't complain about the system, change the system by doing something that makes the system rethink.”

Alfred Behrens:
"This country has been invaded, totally, by market-fundamentalism. [...] I encourage the students to resist the urge to write something that brings money.”

Katrin Eissing kommentiert für das Revolver Blog:
"Auch viele Filme gucken, darüber schreiben und endlos Quatschen hilft nicht. Weinen nützt manchmal, oft auch nicht. Dichten nützt. Der Versuch schon. Wenn nicht dir, dann uns Anderen (wie du siehst). Geschichten und blöde Gedichte schreiben, sie teilen, ist nicht 'wichtig' sondern so etwas wie essen und trinken." 

Das komplette Programm finden Sie in detaillierter Ausführung auf unserer Webseite www.wochederkritik.de. Die Debatten zu den einzelnen Abenden befinden sich zusätzlich auf unserem Youtube-Kanal.

Deniz Sertkol
Pressebetreuung
presse@wochederkritik.de
Tel. +49 (0)30 440 414 43
Woche der Kritik

Dienstag, 10. Februar 2015

Deutsche Filmkritiker: ZEIT DER KANNIBALEN bester Film 2014

Der Verband der deutschen Filmkritik e.V. hat entschieden: bester Film des vergangenen Jahres
war Johannes Nabers ZEIT DER KANNIBALEN. Daneben wurde das Satirekammerspiel auch für das beste Buch und Sebastian Blomberg als bester Darsteller prämiert. Glückwunsch!
Auch besonders schön: als beste Darstellerin kürten die Kritiker Liv Lisa Fries für ihr Spiel in UND MORGEN MITTAG BIST DU TOT sowie STAUDAMM von Thomas Sieben. Letzteren können (und sollten) Sie übrigens am kommenden Donnerstag, den 12.2. um 23 Uhr auf ARTE sehen.
Die weiteren Preisträger bzw. die PM des VDFK (ohne auf Aufführung der Nominierten neben den Gewinnern):
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Liv Lisa Fries in UND MORGEN MITTAG BIN ICH TOT

Berlin, 09.02.2015 – Zeit der Kannibalen wird von Filmkritikern als bester Film 2014 ausgezeichnet. Der Verband der deutschen Filmkritik hat am Montag, 09. Februar 2015, den Preis der deutschen Filmkritik 2014 im Rahmen der Berlinale in 12 Kategorien vergeben. Mit dem Ehrenpreis wurden die Gründer des ehemals unabhängigen Forums, Erika und Ulrich Gregor, ausgezeichnet. Einen Sonderpreis erhielt Heinz Emigholz für den 2014 abgeschlossenen Werkzyklus „Photographie und jenseits“.

Mit fünf Nominierungen galt die filmische Kapitalismuskritik Zeit der Kannibalen von Johannes Naber bereits vorab als Favorit auf den renommierten Kritiker-Filmpreis. Drei Preise durfte das Team mit nach Hause nehmen: Stefan Weigl konnte sich über den Preis der deutschen Filmkritik 2014 in der Kategorie Drehbuch freuen, Sebastian Blomberg nahm den Darstellerpreis für seine Hauptrolle entgegen und Regisseur Johannes Naber erhielt für Zeit der Kannibalen den Preis für den Besten Spielfilm 2014.

Dominik Grafs Die geliebten Schwestern wurde mit zwei Preisen geehrt: Editorin Claudia Wolscht erhielt den Preis für den Besten Schnitt und ihre Kollegen Sven Rossenbach und Florian van Volxem nahmen den Preis für die Beste Musik im Spielfilm entgegen.
Über den Preis der deutschen Filmkritik 2014 in der Kategorie Beste Kamera durfte sich Philip Gröning für die Bildgestaltung seines Films Die Frau des Polizistenfreuen.
Nino Pezzella gewann mit seinem Femminielli, der bereits den Hessischen Filmpreis 2014 holte, den Preis der deutschen Filmkritik in der Kategorie Experimentalfilm. Hans-Dieter Grabes Raimund – Ein Jahr davor zeigte, dass ein Kurzfilm nicht ausschließlich eine Form für Filmanfänger sein muss und durfte sich über den Preis für den Besten Kurzfilm freuen.
Im ersten Jahr der Woche der Kritik wurden die Begründer des Internationalen Forums des Jungen Films und des Arsenals für ihre langjährige filmkritische und -historische Arbeit mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet. 1964 hatten die beiden in Berlin einmalig parallel zur Berlinale eine Woche der Kritik abgehalten.

Für das beste Spielfilmdebüt wurde Anna Martinetz (Fräulein Else) geehrt. Der Preis für den besten Kinderfilm ging an Neele Leana Vollmar (Rico, Oskar und die Tieferschatten). Als beste Darstellerin wurde Liv Lisa Fries für ihre beiden Rollen in Und morgen Mittag bin ich tot und Staudamm ausgezeichnet.
Der Preis für den besten Dokumentarfilm ging an André Schäfer für Deutschboden. Den Sonderpreis der Dokumentarfilmjury erhielt Heinz Emigholz für seinen Werkzyklus „Photographie und jenseits“.
Die Preisübergaben fanden im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung in der Tube Station in Berlin statt. Wie im vergangenen Jahr führte erneut der renommierte Schauspieler Burghart Klaußner durch die Veranstaltung, zu der mehr als 500 geladene Gäste kamen.
Der Preis der deutschen Filmkritik wird jährlich seit mehr als 40 Jahren verliehen und ist der einzige deutsche Filmpreis, der ausschließlich von Filmkritikern vergeben wird. Er richtet sich nach unabhängigen künstlerischen Kriterien. Die diesjährigen Jurys bestanden aus Jennifer Borrmann, Silvia Hallensleben und Claus Löser für den Kurzfilm; Karola Gramann, und Frédéric Jaeger für den Experimentalfilm; Dunja Bialas, José Garcia, Barbara Lorey de Lacharriere, Josef Lederle und Thomas Rothschild für den Dokumentarfilm; Gabriele Grunwald, Rolf-Rüdiger Hamacher, Katrin Hoffmann, Heidi Strobel und Rochus Wolff für den Kinderfilm und Günter Agde, Bettina Hirsch, Cosima Lutz, Michael Meyns, Ralf Schenk, Rüdiger Suchsland und Holger Twele für die Spielfilmpreise sowie die Einzelleistungen.

Alle Preisträger und Jurybegründungen finden Sie in Kürze auch auf unserer Website: www.vdfk.de

Die Preise in der Übersicht:
EHRENPREIS – Erika und Ulrich Gregor
Wir würdigen mit unserem Ehrenpreis zwei Persönlichkeiten, bei denen Film und Leben eine seltene Symbiose eingegangen sind. Sehr viele verschiedene Filme in kurzer Zeit zu sehen, sie einzuordnen, sich zu ihnen öffentlich zu positionieren, sie zu fördern, ins Gespräch zu bringen, zu sammeln oder zu zeigen, kann eine ganzheitliche Aufgabe sein. Sie muss es sein, wenn man all dies gleichzeitig tut. Wenn man die Filme und ihre Urheber liebt und sie ernst nimmt. Ein solches filmisch-ganzheitliches Leben führen uns Erika und Ulrich Gregor vor, und das seit 60 Jahren. Ihre Doppelbiografie zeigt uns, was es heißt, sich nicht mit, sondern in der Idee des Kinos zu bewegen. Die Filmemacher nicht als Lieferanten von intellektueller Verschiebemasse wahrzunehmen, sondern als Partner im Geiste. Wir sprechen hier natürlich über die innovativen, mutigen, randständigen, verrückten Filmemacher, über Tarkowski, Jarman, Greenaway, Iosseliani, Tarr und viele andere mehr, die mit Hilfe der Gregors auf ihre Wege gebracht wurden. Wir reden nicht über die Dienstleister des Unterhaltungskinos. Jean-Luc Godard meinte einst, dass man Filme mit einer Ernsthaftigkeit kritisieren muss, als ob man selbst Filme machen würde. Die Gregors haben uns gezeigt, dass man auch Filme zeigen kann, wie man Filme macht. Für diese Vorbildfunktion danken wir und verleihen den Ehrenpreis der deutschen Filmkritik 2014 an Erika und Ulrich Gregor.

SONDERPREIS DER DOKUMENTARFILMJURY – Heinz Emigholz für den Werkzyklus „Photographie und jenseits“
Seine Stars sind Häuser, Brücken, Bauwerke; Architektur spielt in fast allen seinen Werken eine Rolle. In immer neuen Anläufen und labyrinthisch verzweigten Serien schichtet er einen Film auf den anderen, ohne sich je Sorgen um die Statik dieses Gesamtkunstwerkes machen zu müssen, da Text, Bild, Film und Reflexion bei ihm unaufhörlich ineinander übergehen.
Schon seine Kurzfilme waren interdisziplinäre Kompositionen, bis ins Detail durchgearbeitete Partituren. Ab Mitte der 1970er-Jahre formen sich dann drei umfangreiche, untereinander dicht verzahnte Werkgruppen aus, die allein in quantitativer Hinsicht immens sind – ihre inhaltliche oder ästhetische Substanz lässt sich erst gar nicht beziffern.
Die Rede ist von Heinz Emigholz, der als Autor, Bildender Künstler, Kameramann, Schauspieler, Hochschullehrer und natürlich als Filmemacher seit mehr als vier Jahrzehnten ein einzigartiges Werk geschaffen hat.
Die Dokumentarfilm-Jury verleiht ihm anlässlich seines Films THE AIRSTRIP just in dem Moment einen Sonderpreis, in dem er zu neuen Ufern aufbricht.
THE AIRSTRIP, der 21. Teil seines „Photografie und jenseits“-Zyklus, wird zum globalen Road Movie, die vormalige Strenge weicht einer fast selbstparodistischen Betrachtung. Mitten im Film setzt überdies ein Videoclip der Band „Kreidler“ ein, bei dem animierte Schnitzel durch eine Flughafen-Wartehalle schweben. Wir reiben uns die Augen ob dieses fast heiteren Hinübergleitens ins digitale Zeitalter.
Bevor wir uns demnächst mit einem neuen „Emigholz“ nach Stoffen von Edgar Allan Poe und Hans Henry Jahnn auseinandersetzen dürfen, ehren wird den „Dokumentaristen“ für sein großartiges Werk. Herzlichen Glückwunsch, lieber Heinz Emigholz, und toi toi toi beim Aufbruch in neue Gefilde. Der Sonderpreis der deutschen Filmkritik 2014 geht an Heinz Emigholz für seinen Werkzyklus „Photographie und jenseits“.

EXPERIMENTALFILM – „Femminielli“ von Nino Pezzella 

KURZFILM - „Raimund – Ein Jahr davor“ von Hans-Dieter Grabe

KINDERFILM - „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Neele Leana Vollmar


DOKUMENTARFILM – „Deutschboden“ von André Schäfer


SPIELFILM: Spielfilm – „Zeit der Kannibalen“ von Johannes Naber

SPIELFILM: Spielfilmdebüt – „Fräulein Else“ von Anna Martinetz

SPIELFILM: Drehbuch – Stefan Weigl („Zeit der Kannibalen“)

SPIELFILM: Schnitt – Claudia Wolscht (für „Die geliebten Schwestern“)

SPIELFILM: Kamera – Philip Gröning („Die Frau des Polizisten“)

SPIELFILM: Musik – Sven Rossenbach und Florian van Volxem („Die geliebten Schwestern“)

SPIELFILM: Darstellerin – Liv Lisa Fries (für Lea in „Und morgen Mittag bin ich totund Laura in „Staudamm“)

SPIELFILM: Darsteller – Sebastian Blomberg (für Kai Niederländer in „Zeit der Kannibalen“)

Donnerstag, 8. Januar 2015

Nominierungen für den Filmkritikerpreis 2014

Im Februar werden in Berlin nicht nur die "Bären" verliehen: Der Verband der deutschen Filmkritik e.V. (VdFk) prämiert zur Zeit der Berlinale auch seine Lieblingen in diversen Sparten. Just ist die Meldung mit den 2014er-Nominierten erschienen und diese vielleicht mehr sogar noch als die finalen Auszeichnungen werfen ein Licht auf das Kino-Angebot des vergangenen Jahres.

So geht allen voran Johannes Nabers wunderbarer ZEIT DER KANNIBALEN in gleich vier Kategorien ins Rennen, als bester Spielfilm, für Drehbuch (Stefan Weigl), Kamera (Pascal Schmitt) und zweimal - Devid Striesow u. Sebastian Blomberg - in Sachen Hauptdarsteller.

Gleich zwei "German Mumblecore"-Filme sind als Spielfilmdebüts nominiert: LOVE STEAKS von Jakob Lass und MÄNNER ZEIGEN FILME UND FRAUEN IHRE BRÜSTE von Isabell Šuba, daneben aber auch Ramon Zürchers phänomenal-phänomenologischer DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN, Til Kleinerts DER SAMURAI sowie der ansonsten eher unterschätzte FRÄULEIN ELSE von Anna Martinez.

Ein ziemlich gutes, facettenreiches Jahr war das.

Hier die Nominierten im Überblick - u. ggf. zum 2014-Lückenfüllen:

KURZFILM
Raimund – ein Jahr davor (Hans-Dieter Grabe)
Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen (Susann Maria Hempel)
Three Stones for Jean Genet (Frieder Schlaich)

EXPERIMENTALFILM
EZB 2011-2012 (Sabine Schöbel)
Femminielli (Nino Pezzella)
Semra Ertan (Cana Bilir-Meier)

DOKUMENTARFILM
The Airstrip – Aufbruch der Moderne, Teil III (Heinz Emigholz)
Beltracchi – Die Kunst der Fälschung (Arne Birkenstock)
Deutschboden (André Schäfer)
In Sarmatien (Volker Koepp)
Pfarrer (Stefan Kolbe und Chris Wright)

KINDERFILM
Lola auf der Erbse (Thomas Heinemann)
Quatsch und die Nasenbärbande (Veit Helmer)
Rico, Oskar und die Tieferschatten (Neele Leana Vollmar)

SPIELFILM
Die Frau des Polizisten (Philip Gröning)
Die geliebten Schwestern (Dominik Graf)
Fräulein Else (Anna Martinetz)
Phoenix (Christian Petzold)
Zeit der Kannibalen (Johannes Naber)

SPIELFILMDEBUT
Das merkwürdige Kätzchen (Ramon Zürcher)
Der Samurai (Til Kleinert)
Fräulein Else (Anna Martinetz)
Love Steaks (Jakob Lass)
Männer zeigen Filme, Frauen zeigen Brüste (Isabel Suba)
 
DARSTELLERIN
Alexandra Finder (Die Frau des Polizisten)
Liv Lisa Fries (Und morgen Mittag bin ich tot; Staudamm)
Julia Koschitz (Hin und weg; Bocksprünge; Wir sind die Neuen)
Dagmar Manzel (Stiller Sommer)
Jördis Triebel (Westen)
 
DARSTELLER
Sebastian Blomberg (Zeit der Kannibalen)
Georg Friedrich (Über-Ich und Du)
Ivo Pietzker (Jack)
Devid Striesow (Zeit der Kannibalen)
Gert Voß (Im Labyrinth des Schweigens)
 
SCHNITT
Anna Martinetz, Heike Parplies (Fräulein Else)
Claudia Wolscht (Die geliebten Schwestern)
Ramon Zürcher (Das merkwürdige Kätzchen)
 
DREHBUCH
Dietrich & Anna Brüggemann (Kreuzweg)
Philip Gröning (Die Frau des Polizisten)
Stefan Weigl (Zeit der Kannibalen)

KAMERA
Philip Gröning (Die Frau des Polizisten)
Alexander Haßkerl (Das merkwürdige Kätzchen)
Pascal Schmit (Zeit der Kannibalen)
 
MUSIK
Sven Rossenbach, Florian van Volxem (Die geliebten Schwestern)
Golo Schultz (Love Steaks)
Stefan Will (Phoenix)

(Quelle: VdFk)



Montag, 24. November 2014

Filmkritik: "Liebe mich!" von Philipp Eichholtz

„Von Oma gefördert“ ist dieser Film laut Vorspann – eine andere Produktionsfirma wird nicht genannt. Und der Abspann konstatiert: Gedreht nach dem „Sehr guten Manifest“ von Axel Ranisch. Das heißt insbesondere: In einem Schwung gedreht, in einem rauschhaften Arbeitsvorgang. Mit einem kleinen Filmteam, beweglich und spontan. Improvisiert ohne ausgefeiltes Drehbuch. Und: Tragisch und komisch. In Freiheit selbstbestimmt und unabhängig entstanden, gedreht von glücklichen Filmemachern, ein Bioprodukt der deutschen Filmlandschaft.

„Liebe mich!“ ist ein persönlicher Film: „Ab und an trifft man auf Menschen, an denen man wächst. Für mich war Sarah so eine Person“, sagt Regisseur Philipp Eichholtz: „Nach drei Jahren Sehnsucht, Herzschmerz und Liebeskummer ist dieser Film eine Liebeserklärung an alle lauten, impulsiven und fordernden Menschen, die ihre Fehler und Macken offen und mutig nach außen tragen.“

Sarah: Sie hat einige Macken. Ziemlich große sogar. Und das Tolle am Kino ist: Figuren, die im richtigen Leben nerven würden, kommen einem im Film nahe. Sarah macht zu Anfang für ihren Freund Frühstück, liebevoll und allzu übereifrig. Er hat nicht die Zeit und die Kraft, sie in ihrer Nähesucht (die sich nur in kleinen Nuancen ausdrückt) zu ertragen. Also Streit. Also schmeißt sie ihren Laptop nach ihm. Der fliegt durchs Fenster. Scheibe kaputt, MacBook sowieso. Und Sarah auf der Straße.

Huhn und Hummel
Dort wartet Axel Ranisch auf sie. Im Bienenkostüm. Sie im Hühnerkostüm. Und die beiden verteilen Flyer an die Berliner Passanten, ihr Job neben dem Studium. Geldsorgen genug, ein neuer Laptop kostet 2000 Euro. Und ein rasendes Temperament zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Zwischendurch wütend. Und alsbald verliebt. Nämlich in den Laptopverkäufer…

Impulsiv ist Sarah, sie denkt nicht immer nach. Oder um es mit den Worten ihres Vaters (Peter Trabner wieder Mal in einer Glanzrolle) zu sagen: Wenn man fünf Minuten nachdenkt, weiß man, dass das bescheuert ist; die Lösung einer Gehirnamputierten. Nämlich: Ihre eigene Wohnung für einige Monate unterzuvermieten, dafür 2000 Euro zu erhalten, um das MacBook zu kaufen – und auf der Straße zu stehen. Und beim Papa einzuziehen. Und bei dessen schwangerer Freundin. Ausgesetzt dem Sarkasmus ihres Erzeugers, den dieser in Hochform auf ihr ablädt. Wenn er nicht unvermittelt in die autoritäre Rolle fällt: Ellbogen vom Tisch! Spülmaschine einräumen!

Philipp Eichholtz weiß offenbar, wovon er erzählt. Der Laptopverkäufer Oliver sei Oliver Jerke nachgestaltet, mit dem Eichholtz schon seit Schulzeiten befreundet ist, der nun den Film mitproduzierte. Und Sarah – Sarah ist Sarah, und da lässt sie sich nicht dreinreden. Wild verliebt zieht sie mit Oliver durch Berlin, zwischendurch zündet sie des Nachts das Moped ihres Ex-Freundes an, um anderntags die überflüssigen Möbel aus ihrer untervermieteten Wohnung bei diesem abzuladen. Abladen zu lassen – denn den Umzug muss Oliver, ihr Neuer, bewerkstelligen, sie selbst traut sich nicht und ist lieber Eisessen gegangen. Sarah, wie sie leibt und lebt: Launisch und leidenschaftlich, ungestüm und aufbrausend, kratzbürstig und liebesbedürftig

Philipp Eichholtz mit Filmförderung
Mit sechsseitigem Drehbuchentwurf ist Eichholtz an die Sache rangegangen, mit einem Budget von 4000 Euro. Und hat daraus ein kleines, großes Drama eine irrsinnige Komödie um Liebe und das Vergehen der Liebe geschaffen.

Harald Mühlbeyer



"Liebe mich!"
D 2014. Buch, Regie: Philipp Eichholtz. Kamera: Fee Scherer. Schnitt: Daniel Stephan. Musik: Luca, Ezra Furman, Cotton Jone. Produktion: Oliver Jerke, Philipp Eichholtz.
Darsteller: Lilli Meinhardt (Sarah), Christian Ehrlich (Oliver), Peter Trabner (Papa Dieter), Eva Bay (Natascha), Axel Ranisch (Dennis).
Länge: 80 Minuten.
Noch kein Verleih, noch kein Kinostart...

Mittwoch, 5. März 2014

Deutsches Kino auf der Berlinale (III): DIE GELIEBTEN SCHWESTERN

Sie sind zwar schon rum, die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele in der Bundeshauptstadt. Doch zu spät es ist es noch lange nicht, sich dem einen oder anderen Werk zu widmen. Sei es hier oder als Zuschauer im Kino. Denn natürlich starten viele Filme erst noch. DIE GELIEBTEN SCHWESTERN etwa haben ihren regulären Leinwandauftritt am 31. Juli, ehe sie, so sieht es aus, als Zweiteiler im Fernsehen zu sehen sein werden. Rund 170 Minuten dauerte der Streifen auf der Berlinale, doch wie Regisseur Dominik Graf auf der Berlinale-Pressekonferenz mitteilte, wird es eine etwas kürzere Kino- und eine etwas längere TV-Fassung geben. Inhaltlich soll sich die eine von der anderen nicht groß unterscheiden. Doch schon die Kutschenfahrten, überhaupt: das Langsame, das aus unserer Rücksicht „Entschleunigte“ des ausgehenden 18. Jahrhundert macht einen großen Reiz des Films aus – „Sturm und Drang“ hin oder her. Ist also die Kinofassung hier tatsächlich mal nur die amphibische Vorverwurstung für die „originäre“ TV-Variante? Mithin DIE GELIEBTEN SCHWESTERN mal wieder ein infamer Fernsehfilm, der aufgeblasen und zu dessen Verstopfung ins deutsche Lichtspielhaus entsandt wurde, der schnöden Förderungsmittel und des Renommees wegen?

Ach, elendige kritische Frage, die fast so alt anmutet wie die Protagonisten und ihre Zeit. Und mitsamt dem Thema und seiner Emotionalität, so scheint’s, ewig aktuell. Und ebenso berechtigt wie unbegründet. Denn schließlich handelt es sich hier um einen Film von Dominik Graf. Den haben wir schon in ANSICHTSSACHE als Sachwalter eines qualitativ hochwertigen, zumindest aber stets spannenden und eigensinnigen deutschen Films (sowie mithin jenseits der Kluft) zwischen hiesigen Kino und TV gepriesen. Folglich dürfen DIE GELIEBTEN SCHWESTERN in jedem der beiden Dispositive zu eigenem Recht kommen, erzählerisch wie ästhetisch.

Das Zweiteilerische ist den GELIEBTEN SCHWESTERN ohnehin ganz natürlich eingeschrieben. Da ist ein ersterer, lustvollerer Part, in dem Charlotte von Lengefeld (gespielt von der mit bildschönen Katzenaugen und famosem Namen gesegneten Henriette Confurius) nach Weimar zu Ihrer Tante (Maja Maranow – man gedenke Grafs genial teilsurrealistischer Fahnder-Folge NACHTWACHE von 1993!) geschickt wird. Der Ehemann-Findung wegen. Doch der schottische Militär, auf den notgedrungen gesetzt wird, ist es nicht so recht, der fesche Jungschriftsteller Friedrich Schiller (auf der Berlinale auch als Jungpriester in Brüggemanns KREUZWEG zu sehen: Florian Stetter) hingegen tritt zwar charmant und lebensprall auf, dafür aber auch recht mittellos. Hilft nichts, Charlotte verguckt sich in ihn. Ebenso wie daheim in der sommerheißen Provinz ihre Schwester Caroline (nicht zu katzenäugig, dafür Confurius nicht zuletzt der Rolle wegen an die Wand spielend: Hannah Herzsprung). Diese hat zur finanziellen Absicherung der ansonsten langsam verarmenden Familie den Herrn von Beulwitz gezweckehelicht, verdreht nun aber zusammen mit Charlotte dem Dichter in Rudolstadt den Kopf. Oder aber dieser den der Schwestern.

Die zunächst keusch-glutvolle Ménage à trois inszeniert Graf mit vergnüglichem Witz und erstaunlicher Verve, wobei die poetische Sprache jener Zeit erstaunlich bodenständig und natürlich wirkt. Tändeln und Schmachten, Anstand und Etikette, das Ausharren der Schwestern am Fenster, wartend (aber bitte nicht so überdeutlich!), auf dass der Herr Schiller sich dem Schlosse über die Furt nähert – hach, was waren das noch Zeiten, so ohne Massenpresse, Fernsehen, Handy. Kein „#Schillergeil“, keine Facebook-Freundschaft, die SMS noch auf Briefpapier, wortvollendet, schön kaligraphiert und wachsversiegelt.

Sicher: Liebesheirat ist da noch eine Luxus (oder ein Skandal), aber gerade das Steife und Gebotene, Gehrock und Musselinkleid, das kultivierte Französisch, das ist für Graf herrliches Spielmaterial für die drei selbstbewussten Hauptfiguren und ihr Körper. Bei der Pressevorführung im Berlinale-Palast konnten einem die ausländischen Kollegen jedenfalls leidtun, die sowohl vom reclamheftigen Sturm-und-Drang-Zeit-Duktus hier, den Dialekten dort (Schwäbisch oder – beim überragenden, nur von Ferne oder aus der Rückansicht ehrfurchtsvoll präsentierten Dichterfürst Goethe: - Frankfurter Hessisch!) nur mitbekamen, was englische Untertitel so vermitteln konnten (nämlich nichts). DIE GELIEBTEN SCHWESTERN werden dröge eindeutig international zu BELOVED SISTERS.

DIE GELIEBTEN SCHWESTERN – ein, zwar nicht FACK JU, aber immerhin doch ein Philipp Stölzl’erischer GOETHE!? Nein. Zwar tritt auch in DIE GELIEBTEN SCHWESTERN der zweite große Natioinalpoet zwar als solcher nicht sonderlich in Erscheinung, er spielt aber ja auch nur die zweite Geige gegenüber den Frauen und überhaupt: Es geht Dominik Graf eben um die komplexe, komplizierte Liebensbeziehung, ihre Lust, aber auch ihre Folgen und Verletzungen, und das in eleganter, klug inspizierender Form, eine, die den großen historischen wie tragischen Bogen nicht scheut, ohne (allzu sehr) Geschichtstelekolleg oder herzeleidiges Melodram zu werden. Die Graf‘schen Griffe, Sichtweisen und Stilismen, sie fügen sich gekonnt in den Stoff ein (oder dieser wird auf sie hin entfaltet): die ironischen (und als solche vom / im Film selbst ironisch kommentierten) Sprachspiele (die stets auch Gesellschaftsspiele sind in jener Epoche), die Überblendungen, die Standbilder der Protagonisten en face... Und als Schiller – Endlich! möcht man rufen, nach all dem Werben und Verlangen – sich mit Caroline der unerhörten, heimlichen Fleischeslust in Löffelchenstellung hingibt, da hat das trotz (oder wegen) des diskreten Verbleibs der Kamera auf den Gesichtern der Schauspieler mehr aufregende, unverblümte Erotik als alle expliziten Sex-Szenen in Lars von Triers NYMPHOMANIAC VOL. 1 (freilich ein ebenfalls gelungener Film, der auch etwas und von etwas anderem erzählt).

Doch Caroline ist ja schon vergeben; Schiller heiratet also Charlotte, für die wiederum der Gatte aber in ihrer Geschwisterliebe und vor allem aus Dankespflicht für Carolines familiendienlicher Zweckehenopfer doch eben irgendwie der Schwester gehört. Weshalb sie sich ihm quasi innerlich entsagt, zunächst. So kommt der zweite Teil, mithin Schillers beruflicher Erfolg. Professur in Jena, Herausgabe der Horen in Tübingen; das Eheleben nimmt seinen Lauf, Kinder werden geboren. Die Räume, auch buchstäblich in der Inszenierung, die Stuben und Kammern in Jena, in Weimar, im Schwäbischen, sie werden eng und dunkel. Auch die Beziehung der Schwestern geht in die Brüche, zueinander, zu sich selbst. Caroline verlässt ihren Mann, feiert mit ihrem Fortsetzungsroman anonym Erfolge, wird Mätresse. Schiller leidet an schlechter Gesundheit. Geschichte eben.

D. Graf (l.) mit seinen drei HauptdarstellerInnen (Foto: Bavaria)
Auch dieser zweite Part ist gelungen, aber in der Länge des Films dann eben doch düsterer, fragmentarischer, eben nicht so sommerlich-beschwingt, bestechend, charmant; der Liebessommer in Thüringen ist vorbei und man vermisst ihn „hintenraus“, weil er so schön war, so romantisch. Aber so ist es eben, im Leben. Auch das ist Graf hoch anzurechnen, der selbst mit seiner immer leicht nuscheligen, angenehm trockenen Stimme den historisierenden Off-Kommentar spricht: dass er die Wahrhaftigkeit im Träumerischen erhält und umgekehrt, dass er die sachliche Chronik eines dreifachen Lebens und Liebens nicht überhöht, sie nicht überzeitlich (v)erklärt und doch universell nicht zuletzt im Auslaufen hinein ins (auch Sitten-)Historische sein lässt, weiterverfolgt – eine Geschichtslektion, deren erstaunlich moderne private Beziehungsgeschichte sowohl kühle Lerndistanz als auch gleichzeitig nicht große, aber feine erwachsene Anrührung zu erzeugen vermag.

Er kann es also, der Graf nicht nur des Fernsehens, des Polizei- pardon: des Polizistenkrimis und -thrillers, von Im Angesicht des Verbrechens oder zuletzt im stilistisch und inhaltlich überbordenden furiosen München-TATORT „Aus der Tiefe der Zeit“ (Buch: Bernd Schwamm). Doch ist das überhaupt eine Überraschung? DAS GELÜBTE über Dichter Clemens Brentano und die Nonne Anna Katharina Emmerick (mit Graf-„regular“ Mišel Matičević sowie Tanja Schleiff) war auch kein „Schulfunk, Kostümschinken, Erbauungsdrama“, und faszinierende Dreiecksfreundschafts- und -liebeskonstellationen untersuchte er ebenfalls bereits, vor allem in DIE FREUNDE DER FREUNDE (2002, nach Henry James, mit einem Prä-RUBBELDIEKATZ Matthias Schweighöfer, mit Sabine Timoteo und, ja auch hier schon: mit Florian Stetter). Buch für all diese Filme, wie auch zu Grafs DREILEBEN-Beitrag KOMM MIR NICHT NACH, zu Grafs DER FELSEN und seiner Trilogie KALTER FRÜHLING, DEINE BESTEN JAHRE, BITTERE UNSCHULD: Markus Busch. Und alles Fernsehen übrigens.

DIE GELIEBTEN SCHWESTERN, mittlerweile auch mit Verleih in den USA, ist also keine Ausnahme, was das Schaffen Grafs anbelangt, so wie so nicht, gottlob.


DIE GELIEBTEN SCHWESTERN (Regie u. Buch: Dominik Graf)
Kinostart:  31. Juli 2014, Verleih: Senator

Bernd Zywietz   

Samstag, 15. Februar 2014

Deutsches Kino auf der Berlinale (II) - KREUZWEG

Um den deutschen Film ist es gut bestellt. Sicher, dieser Schluss ist subjektiv und, zugegeben, nicht alles habe ich sehen können. Aber die Filme mit Kennzeichen D, die ich gesehen habe, die können sich – nun ja – sehen lassen. Auch zahlenmäßig lässt sich ein positiver Trend ausmachen, zumindest wenn man auf die Haupt- und Vorzeigesektion der Internationalen Filmfestspiele, den Wettbewerb, blickt. Waren darin letztes Jahr lediglich Thomas Arslans GOLD und LAYLA FOURIE von Pia Marais vertreten, sind es 2014 doppelt so viele Anwärter auf den Goldenen Bären gewesen. Mehr noch, wenn man George Clooneys verunglückten MONUMENTS MEN als deutsche Co-Produktion mit einrechnet. Man müsste dann allerdings auch Wes Andersons gefeierten Berlinale-Eröffner und Grand-Jury-Preisträger GRAND BUDAPEST HOTEL, der u.a. vom Medienboard Berlin-Brandenburg und der baden-württembergischen MFG bezuschusst und in Babelsberg, Görlitz und sonst wo in Sachsen gedreht wurde, mitberücksichtigen. Außerdem Lars von Triers überraschend witziger und berührender NYPHOMANIAC VOL. 1 sowie STRATOS (bzw.: TO MRKO PSARI), den Beitrag von Yannis Economides, der von einem Auftragsmörder im von der Finanzkrise zerrütteten Griechenland handelt (was den deutschen Unterstützersummen der FFA und der Film- und Medienstiftung NRW für diesen Film durchaus etwas Ironisches verleiht).

Aber hier sei nicht von schnödem Kraut-Funding mit Regionaleffekt oder dergleichem die Rede, sondern von genuinen deutschen Filmen (wie immer man die im Detail als solche definieren mag, etwa über den/die RegisseurIn oder die Themen). Neben JACK (HIER besprochen) sind das im Wettbewerb der Berlinale 2014 Dominik Grafs DIE GELIEBTEN SCHWESTERN, KREUZWEG von Dietrich Brüggemann und Feo Aladags ZWISCHEN WELTEN. Daneben präsentierte die Sektion Panorama Entdeckungen und Empfehlenswertes, darunter Maximilian Erlenweins hard-boiled Thriller STEREO und ÜBER-ICH UND DU von Benjamin Heisenberg (SCHLÄFER, RÄUBER); außerdem – der Name sagt es – die Perspektive Deutsches Kino, in der vor allem ZEIT DER KANNIBALEN von Johannes Naber (DER ALBANER) ein schwarzkomisches Muss war und ist.

Sicher sind nicht alle diese und der andere hiesigen Werke (gleich) gelungen. Insgesamt jedoch zeigte sich der aktuelle deutsche Film in Berlin als überraschend vielfältig, weniger festivalgenerisch bieder und darin auch noch erstaunlich profund und gelungen. Nach Saarbrücken also setzt sich die Glückssträhne, wohl mehr aber noch der Entwicklung in Sachen Vielfalt und Güte des heimischen Kinos fort. Eines, das sich anschickt, nicht zuletzt im Ausland an Beachtung und Renommee (hinzu) zu gewinnen.

1.         KREUZWEG
Dietrich Brügge zum Retter des jüngeren deutschen Kinos, quasi zum „Brügge Man“, auszurufen, der die Gräben zwischen Anspruchskino, Festivalkino und Unterhaltungskomödie jenseits der gereihten Gags schließt, dürfte etwas hochgegriffen sein. Ein Hoffnungsträger scheint er aber allemal, hat er doch mit seinen letzten beiden Filmen, RENN, WENN DU KANNST und vor allem dem einnehmenden DREI ZIMMER/KÜCHE/BAD durchaus etwas zu sagen und zu zeigen gehabt, was das Leben und vor allem die Lebensstimmungen und -findungsschwierigkeiten der Anfang-, Mitte-20-Jährigen betrifft. Gerade im letztgenannten Film, der die Generationsstimmung in der Situation des wiederkehrenden Wohnungsumzugs so symbolisch wie szenisch-narrativ und ganz konkret aufgriff und einfasste, war Brüggemanns Botschaft, laut Rüdiger Suchsland auf Artechock, eine „sympathische Verteidigung der Vorläufigkeit“. Brüggemann als Chronist wäre an sich aber nicht so spannend ohne seine Handschrift und dem damit verknüpften, kindlich-entdeckungsneugierigen, aber nicht pubertären Humor, der sich stets durch ein Moment des Arrangierten, des Gestellten und Gesetzten auszeichnet. Die Bilder sind klar und mit dem Hang (wenn nicht: Liebe) zur Geometrie komponiert, ebenso die Figuren, die – das überrascht – darin nicht ihre Lebendigkeit verlieren, sondern erst behaupten, erstreiten, erlangen. Brüggemann ist kein Komiker, aber seine Weltsicht ist selbst im Drama eines trocken-sarkastischen Querschnittsgelähmten (Robert Gwisdek in RENN, WENN DU KANNST) eher die eines Jaques Tatis oder Buster Keaton denn eines Chaplins.

Diese einfallsreiche, zugleich virile und bisweilen sehr pointierte „Steifheit“ hat den einen oder anderen Kritiker zumindest im Trailer zur KREUZWEG aufs Glatteis geführt. Denn Brüggemann hatte letztes Jahr einiges Aufsehen erregt (und uns mit dem Verweis darauf die höchste Click-Zahl beschert), als er auf seinem Blog zur letztjährigen Berlinale gegen die „Berliner Schule“ und dabei auch Arslans GOLD wetterte. Und nun erweckte er mit KREUZWEG (der nun – auch so eine Ironie der Festivalgeschichte – selbst im Wettbewerb lief) bei dem einen oder anderen Schreiber vorab den Eindruck, sich selbst auf das gleiche filmische Terrain zu begeben. Der Verdacht war unbegründet. Zusammen mit seiner Schwester und Co-Autorin, der wunderbaren Schauspielerin Anna Brüggemann, ist er formal, gar formalistisch zurückgekehrt zu seinem ersten Spiel- und HFF-Potsdam-Abschlussfilm NEUN SZENEN von 2006. NEUN SZENEN: In acht langen, statischen, ununterbrochenen Einstellungen und einer ebenfalls ungeschnittenen Plansequenz (eine Fahrt durch den Park) wird episodisch, die Figuren ablösend und ihre Wegen überschneidend, von Orientierungslosigkeit und den Beziehungssorgen der Post-Abitur-Zeit erzählt. Das hatte inhaltlich wie formalästhetisch noch etwas von Experiment mit unverkünsteltem Appeal und gelungener Übung. Entsprechend spannend ist es nun, wie sich Brüggemann mit dem selben Ansatz einem ganz anderen, ernsteren Thema in KREUZWEG widmet. Aus neun sind vierzehn Szenen geworden (gedreht in ebensovielen Tagen), die Stationen des Weges Jesu zum Kreuz und darüber hinaus eben, die als solche im Film selbst jeweils (und bisweilen boshaft) kapitelhaft tituliert sind. „Jesus wird zum Tode verurteilt“ (der Firmungsunterricht), „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern“ etc. in starren Halbtotalen, in Räumen, einmal im Auto, schließlich eine Fahrt in der Kirche, eine Kamerakranfahrt ganz am Ende.


KREUZWEG ist, so Brüggemann, kein Religions-Bashing, aber es fehlt schwer, gerade in der gewählten Form (oder aus ihr heraus) zumindest keine bissige Ironie zu verspüren und sie bei aller Tragik der Geschichte zu genießen. Ein bisschen erscheint KREUZWEG wie ein Gegenentwurf zu und doch entfernter Geistesverwandter von Katrin Gebbes an die Nieren gehenden TORE TANZT. Es ist eine Opfergeschichte eines jungen Menschen, der seinen religiösen Glauben (zu) ernst nimmt und in voller Konsequenz leidend durchexerziert. Wobei sowohl Gebbe wie Brüggemann – die eine mehr, der andere etwas weniger – den Zuschauer wahlweise spöttisch oder unbequem Berechtigung dieses Passionswegs qua bestätigender Erfüllung und Sinn mit kleiner Geste beigeben.

In KREUZWEG (dessen Kinoplakat ebenso frech überzogen ist wie das von NYMPHOMANIAC), geht es freilich um keinen „Jesus-Freak“, der in der Gartenlaube drangsaliert wird, sondern um die vierzehnjährige Maria (eindrucksvoll: Lea van Acken) die mit ihrer Familie den Lehren der (im Film umbenannten) konservativ-traditionalistischen Pius-Bruderschaft folgt. So wächst das Mädchen, befeuert vom attraktiven, schwungvoll beseelten Pater (Florian Stetter), in der Gewissheit auf, dass moderne Musik wie Soul und Rock ebenso des Teufels ist wie es ihre Pflicht, den modernen Verlockungen zu wiederstehen, immerzu wachsam, tugendsam und mithin verzichtsvoll zu sein. Die gestrenge, dominante Mutter tut im Elternhaus das übrige in puncto katholischer Ordnung, und weil der kleine Bruder nicht spricht, sich Maria quasi für ihn aufopfern will, geht sie ihren Weg, auch wenn sie ein freundlicher Schulkamerad oder der durchsäkularisierte Alltag, etwa des Schulsports, quasi in „Versuchung führen“.

Die Brüggemanns diffamieren mit KREUZWEG Religion und katholische oder sonstwelche Lebensführung nicht, sie führen weder den jungen Priester vor, noch stilisieren sie die von Franziska Weisz fabelhaft gespielten Mama zur fanatisch eifernden Mutter einer CARRIE, im Gegenteil. Aber sie nehmen klar Partei, zeigen zumindest unaufdringlich Mitleid für die Seelennöte ihrer jungen Protagonistin und üben darüber deutlich, wenn auch „unausgesprochen“ und zwangsweise Kritik an der Erziehungsbeengung und Indoktrination von ungeschützten jungen Seelen, denen, wie eben hier in Marias Fall, leider keine reelle negative Religionsfreiheit zukommt. Eine Freiheit eben nicht nur für, sondern auch gegen den oder zumindest ein Stückweit vor dem reglementierenden Glauben. Eine Freiheit, die im Privaten unterhalb des Radars von Erziehern, Jugendämtern, Ärzten, allzu leicht, blind und dummerweise in bester Absicht fatal verwehrt wird.

Umso mehr schmerzt es, zuzusehen, wie diese Opfer-Figur Maria nicht nur in dem clever und dicht gewebten Netz dogmatischen Argumentationen und einer Selbstreflexivität, die zur permanenten Skepsis der eigenen Beweggründe noch im Handeln unter den Vorgaben des Gebotsregimes auffordert, eingewickelt ist, sondern wie sie dieses selbst noch letztlich über die Maße hinaus weiterspinnt, all die Forderungen und die Hingabe übererfüllt. Und zwar so, dass sie praktisch nichts macht. KREUZWEG ist damit auch eine kleine, recht einfache und deshalb so wirksame Parabel über die Mechanismen des Fundamentalismus und einem schnell verlorenen Kampf dagegen, einer, der selbst einen für Gott gegen die verderbte Welt befiehlt. Und es ist ja nicht so, dass diese blasse, schlaksige Maria nicht aufbegehren oder wenigstens einen Ausweg suchen, besser gesagt: andenken und ausprobieren würde. Doch auch der kleine und harmlose, mit einer Notschwindelei beförderte Versuch, den Kirchenchor des netten Schulkameraden zu besuchen, endet schnell und das erbsündige Schuldbewusstsein ins Konkrete, den Familienbund hinein, steigernd, finalisierend. Und so wird Hingabe zur Aufgabe, Buße und Eigen-Geißelung zur Ich-Entsagung. Ach, hätte sie sich doch als die missionarische Vorkämpferin gegenüber der Mutter geriert, die gegen den Gospel des Mitschülers ankämpfen will, so wie es ja der Priester anmahnte – vielleicht wäre sie durchgekommen. So aber wird sie in eigener Sache zur eifrigen Avantgarde, die inneren Augen zum Himmel gerichtet.

Das erscheint alles in seinem Thema vielleicht etwas bemüht, auch anachronistisch, zu irrelevant zumindest in der Blickrichtung. Hätten Dietrich und Anna Brüggemann, selbst (wenn auch moderat) katholisch erzogen, vielleicht in gleicher Form, in ähnlicher Weise, von Taliban und Jihadisten erzählen sollen oder können? Auf dass am Ende nicht das Grab, sondern der Sprengstoffgürtel wartet? Wäre das möglich, erlaubt gewesen, ein gänzlich anderer Film geworden? Der böse Fremde mit der Bombe statt einer jungen, keuschen Dulderin? Aber auch im sogenannten Westen ist die religiöse (mithin natürlich: christliche) Religion und ihr Freiheits- und Gestaltungsanspruch wieder auf dem Vormarsch. Und insbesondere dahingehend KREUZWEG ist eine generelle Auseinandersetzung mit dem Geltungsrang und dem Gültigkeitsraum von Überzeugungen im modernen, pluralistischen Alltag und den Verwerfungslinien und Reibungspunkten dazwischen. Wie viel Toleranz muss da, darf da sein, wie viel an Partikularrecht? Der Film selbst reißt die Frage an, wenn im Sportunterricht die Lehrerin für Maria die Popmusik ausschaltet und hernach ihre Not an mit den kecken Buben, die es jetzt aber wissen wollen: Was, wenn meine Religion es verbietet, am Sport teilzunehmen? So wie übrigens bei den muslimischen Mitschülern?   

Gerade aber was die spezifische Religiosität Marias angeht, bekommt die Auflösung der Szenen in einzelne, wenige Tableaus, die in NEUN SZENEN eher noch selbstzweckhafter wirkte, weil ohne zwingenden thematischen Widerhall, in KREUZWEG eine bemerkenswerte formale Bedeutung und entfaltet besondere Wirkung. Das ästhetische Konzept mag sich für einen oder anderen in sehr den Vordergrund drängen. Doch selbst das lässt sich KREUZWEG und Brüggemann gar nicht vorwerfen, denn das Ikonische, das eigentliche oder metaphorische Bild(nis)hafte selbst ist dem Film ohnehin ebenso einreflektiert wie dem Christentum und besonders dem Katholizismus, so dass sich Spott- und Andachtsgemälden hier ineinanderschieben – nicht nur das des „Genres“ Kreuzweg oder des Passionsspiels, sondern auch des Kinos selbst. Wenn also in der letzten Einstellung das Grab schnöde mit einem kleinen Schaufelbagger in der Herbstsonne zugeschüttet wird, lässt sich das lesen als letzter ironisch banalisierender Kommentar, ein Seitenhieb, aber auch als verwahrende Abkehr von jener filmischen Anrührungssprache, die Beerdigungen gerne und häufig mit schwarzgewandeten Trauernden im Regen besetzt.     
    
Nicht zu Unrecht also wurden Anna und Dietrich Brüggemann für ihr KREUZWEG-Drehbuch mit dem Silbernen Bären 2014 ausgezeichnet. Am 20. März kommt der Film im Verleih von Camino in die Kinos.

zyw

Freitag, 7. Februar 2014

Deutsches Kino auf der Berlinale (I): JACK


Hit the Road... ?

Daniel ist zehn Jahre alt, und hat es nicht leicht. Denn nicht nur wächst er in liebvollen, aber ungeordneten Verhältnissen in Berlin auf, sondern heißt darüber hinaus auch gar nicht Daniel. Sondern Jack. So wie der Film. Beziehungsweise: der Film nach seiner kleinen, gebeutelten Hauptfigur, eine, die umso gebeutelter ist, als sie es gar nicht merkt. Ivo Pietzcker (wirkt irgendwie wie ein junger Hanno Koffler) spielt den kleinen Kerl überzeugend, aber das muss nichts heißen – oftmals sind Kinder einfach vor der Kamera. Punkt. Keine Kunst, keine Technik, sondern: Sein. Das kann schief gehen, hier ist es geglückt. Auch wie sich die Regie von Edward Berger in JACK nicht nur die filmischen Mittel auf Augenhöhe halten, sondern, zudem, immer ein klein wenig darüber, emotional, verständnistechnisch.  Das hat den großen Vorteil, dass wir nicht nur dumm mitfühlen müssen, sondern dass wir das Hundsgemeine, das Gedankenlos-Gemeine auch kühl erkennen, ein- und abschätzen können. Das hat den Nachteil, dass wir, dramaturgisch, erzählerisch geschult, immerzu voraussehen, was da uns und dem jungen Helden blüht. Zugleich aber schätzen wir umso mehr den geglückten Schluss, in dem Jack selbst – sowohl endlich wie leider – begriffen hat, wie es um ihn herum zugeht. Was er zu tun hat. Was er sich abzuschminken hat. Und welche Verantwortung er übernimmt. Ein optimistischer wie pessimistischer Schluss, umso beeindruckender weil: von leichter Hand.

Aber warum Jack jetzt Jack heißt und mithin JACK eben JACK – ich weiß nicht. Ein verunglückter Angloamerikanismus, der schielt und verweist? Vielleicht aber auch: weil Jacks Mama (gelungen besetzt: Luise Heyer), die selbst noch recht jung ist, eben so drauf war und ist, ihren Sohn so zu benamen. KEVIN wäre auch allzu unmöglich heute. Überhaupt ist Mama vielleicht nicht nur Schuld am Titel, sondern überhaupt an der Misere, von der er handelt. Jack muss auf seinen kleinen Bruder Manuel (Georg Arms) aufpassen, zeigt sich schon in der Auftaktszene, in der er Papa und selbst Kind zugleich ist, durch die Wohnung hetzt, sich eilig anzieht, rudimentäres Frühstück macht, hilflos und abgeklärt zugleich. Die Mutter ist, mal wieder, nicht zu Stelle. Aber der Film (Drehbuch Berger u. Nele Mueller-Stöfen) denunziert sie nicht, zeichnet sie als Frau, die selbst bewusstseinsmäßig noch nicht ganz ausgereift ist. Man glaubt ihr gerne, dass sie Jack und Manuel von ganzen Herzen liebt, sieht sie mit ihnen herumtollen, wie sie sich alle drei quasi gegenseitig wärmen. Aber es ist eben auch eine Frau, die ihr altes Mädchen-Leben, die Partys, die Freunde, die freiheitliche Verantwortungslosigkeit nicht aufgeben will – oder eher: kann. Es ist eine überforderte Frau, hinter deren Glück immer schon dessen Illusion und der Absturz hervorschimmert. Eine Mutter, die im Amt auf keinen Fall ihr Kind fortgeben will, die es aber dann auch im Heim lässt, wenn es ihr halt nicht passt, es vergisst. Was, so gesehen, natürlich auch so ein erzählerischer Kunstgriff ist, der leicht gebraucht das Publikum anzurühren. Andererseits: ein Drama, vielleicht auch Tragödie mit eigenem Recht und eigener Dimension.

Aber hier, in diesem Film, ist es vor allem Jacks Geschichte, und die funktioniert wie sie ist. Der kennt die Schattenseiten der Mama, aber als er den Bruder, der ihn klaglos als Erziehungsberechtigten akzeptiert, in die zu heiße Badewanne steigen lässt, ist Schluss mit dem (auferzwungenem) freien "Schaffst-du-schon"-Leben. Ob trotz oder wegen Mama (und ihrem erratischen Wesen) – Jack kommt ins Kinderheim. Dort hat ihn ein Älterer auf den Kiecker (auch so ein Plot-Device), bis ihm Jack, pädagogisch natürlich unlauter und moralisch völlig daneben, gleichwohl emotional ausgleichstechnisch durchaus befriedigend und gerechtfertigt mit einem Ast Eins überzieht. Jack türmt, schlägt sich durch und zurück in die Stadt, wo er Mama daheim nicht findet, wenigstens dann aber seinen Bruder bei einer Bekannten, sodass sie zu zweit durch die Stadt wandern, auf der Parkbank oder in einem kaputten Auto in der Tiefgarage nächtigen, immer wieder vor der Mietshauswohnung aufkreuzen. Der Schlüssel im Schuh auf dem Flur ist nicht da. Das vielleicht in mehrfacher Hinsicht traurigsten Bild, dass das Drama des verblüffend zwingend auf den Punkt bringt.

JACK ist die Geschichte einer Odyssee kleiner Menschen, auf der Suche, auf der Flucht. Dass es nicht nur in Kriegs- und Entwicklungshilfegebieten, sondern hier, bei uns, Kindern dreckig geht – und wie einfach und schnell das passiert –, ist leider nicht nur allgemein keine Neuigkeit mehr, sondern auch schon im Kino thematisiert (ja ja, wie DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD von den Dardennen). Daraus aber eine solch kleine und zugleich existenzielle Erzählung (Trinken, Essen, Schlafen) zu schaffen, ohne ins Melodramatische abzudriften, ist eine Kunst, die Berger beherrscht – einfach deshalb, weil er das Melodramatische nicht einfach anti-betroffenheitsschulmeisterlich leugnet und zu negieren sucht, sondern etwas im Soundtrack etwa mit kurzen, pointierten Streichereinsätzen eingesteht und annimmt, ohne ihm zu verfallen. Damit fängt er nicht nur die Weltdimension der Erlebnisse für Jack ein, sondern nimmt und selbst mit der (traurigen) Gewissheitserfahrung von Erwachsenen sowohl ernst wie an die Hand. Zwischen Überwältigung und ebenso kalkulierter, noch enervierender weil manipulativer Lakonik und Distanz: Diese gelungene, ungewöhnliche Gradwanderung in Einklang mit seinem „Blickwinkel“ macht den in Vielem sozialproblemfilmkonventionellen, zugleich derart vorzüglich einfachen JACK so bemerkenswert und, denkt man darüber nach, absonderlich nachhaltig im eigenen sozialproblematischen Gefühlshaushalt. Ein Film, wie Jack selbst, der vor allem dann wächst, erwachsen und erwachsener wird, vor allem, wenn man ihn gesehen hat und - wie Jacks Mutter - nicht hinschaut.