Freitag, 7. Februar 2014

Deutsches Kino auf der Berlinale (I): JACK


Hit the Road... ?

Daniel ist zehn Jahre alt, und hat es nicht leicht. Denn nicht nur wächst er in liebvollen, aber ungeordneten Verhältnissen in Berlin auf, sondern heißt darüber hinaus auch gar nicht Daniel. Sondern Jack. So wie der Film. Beziehungsweise: der Film nach seiner kleinen, gebeutelten Hauptfigur, eine, die umso gebeutelter ist, als sie es gar nicht merkt. Ivo Pietzcker (wirkt irgendwie wie ein junger Hanno Koffler) spielt den kleinen Kerl überzeugend, aber das muss nichts heißen – oftmals sind Kinder einfach vor der Kamera. Punkt. Keine Kunst, keine Technik, sondern: Sein. Das kann schief gehen, hier ist es geglückt. Auch wie sich die Regie von Edward Berger in JACK nicht nur die filmischen Mittel auf Augenhöhe halten, sondern, zudem, immer ein klein wenig darüber, emotional, verständnistechnisch.  Das hat den großen Vorteil, dass wir nicht nur dumm mitfühlen müssen, sondern dass wir das Hundsgemeine, das Gedankenlos-Gemeine auch kühl erkennen, ein- und abschätzen können. Das hat den Nachteil, dass wir, dramaturgisch, erzählerisch geschult, immerzu voraussehen, was da uns und dem jungen Helden blüht. Zugleich aber schätzen wir umso mehr den geglückten Schluss, in dem Jack selbst – sowohl endlich wie leider – begriffen hat, wie es um ihn herum zugeht. Was er zu tun hat. Was er sich abzuschminken hat. Und welche Verantwortung er übernimmt. Ein optimistischer wie pessimistischer Schluss, umso beeindruckender weil: von leichter Hand.

Aber warum Jack jetzt Jack heißt und mithin JACK eben JACK – ich weiß nicht. Ein verunglückter Angloamerikanismus, der schielt und verweist? Vielleicht aber auch: weil Jacks Mama (gelungen besetzt: Luise Heyer), die selbst noch recht jung ist, eben so drauf war und ist, ihren Sohn so zu benamen. KEVIN wäre auch allzu unmöglich heute. Überhaupt ist Mama vielleicht nicht nur Schuld am Titel, sondern überhaupt an der Misere, von der er handelt. Jack muss auf seinen kleinen Bruder Manuel (Georg Arms) aufpassen, zeigt sich schon in der Auftaktszene, in der er Papa und selbst Kind zugleich ist, durch die Wohnung hetzt, sich eilig anzieht, rudimentäres Frühstück macht, hilflos und abgeklärt zugleich. Die Mutter ist, mal wieder, nicht zu Stelle. Aber der Film (Drehbuch Berger u. Nele Mueller-Stöfen) denunziert sie nicht, zeichnet sie als Frau, die selbst bewusstseinsmäßig noch nicht ganz ausgereift ist. Man glaubt ihr gerne, dass sie Jack und Manuel von ganzen Herzen liebt, sieht sie mit ihnen herumtollen, wie sie sich alle drei quasi gegenseitig wärmen. Aber es ist eben auch eine Frau, die ihr altes Mädchen-Leben, die Partys, die Freunde, die freiheitliche Verantwortungslosigkeit nicht aufgeben will – oder eher: kann. Es ist eine überforderte Frau, hinter deren Glück immer schon dessen Illusion und der Absturz hervorschimmert. Eine Mutter, die im Amt auf keinen Fall ihr Kind fortgeben will, die es aber dann auch im Heim lässt, wenn es ihr halt nicht passt, es vergisst. Was, so gesehen, natürlich auch so ein erzählerischer Kunstgriff ist, der leicht gebraucht das Publikum anzurühren. Andererseits: ein Drama, vielleicht auch Tragödie mit eigenem Recht und eigener Dimension.

Aber hier, in diesem Film, ist es vor allem Jacks Geschichte, und die funktioniert wie sie ist. Der kennt die Schattenseiten der Mama, aber als er den Bruder, der ihn klaglos als Erziehungsberechtigten akzeptiert, in die zu heiße Badewanne steigen lässt, ist Schluss mit dem (auferzwungenem) freien "Schaffst-du-schon"-Leben. Ob trotz oder wegen Mama (und ihrem erratischen Wesen) – Jack kommt ins Kinderheim. Dort hat ihn ein Älterer auf den Kiecker (auch so ein Plot-Device), bis ihm Jack, pädagogisch natürlich unlauter und moralisch völlig daneben, gleichwohl emotional ausgleichstechnisch durchaus befriedigend und gerechtfertigt mit einem Ast Eins überzieht. Jack türmt, schlägt sich durch und zurück in die Stadt, wo er Mama daheim nicht findet, wenigstens dann aber seinen Bruder bei einer Bekannten, sodass sie zu zweit durch die Stadt wandern, auf der Parkbank oder in einem kaputten Auto in der Tiefgarage nächtigen, immer wieder vor der Mietshauswohnung aufkreuzen. Der Schlüssel im Schuh auf dem Flur ist nicht da. Das vielleicht in mehrfacher Hinsicht traurigsten Bild, dass das Drama des verblüffend zwingend auf den Punkt bringt.

JACK ist die Geschichte einer Odyssee kleiner Menschen, auf der Suche, auf der Flucht. Dass es nicht nur in Kriegs- und Entwicklungshilfegebieten, sondern hier, bei uns, Kindern dreckig geht – und wie einfach und schnell das passiert –, ist leider nicht nur allgemein keine Neuigkeit mehr, sondern auch schon im Kino thematisiert (ja ja, wie DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD von den Dardennen). Daraus aber eine solch kleine und zugleich existenzielle Erzählung (Trinken, Essen, Schlafen) zu schaffen, ohne ins Melodramatische abzudriften, ist eine Kunst, die Berger beherrscht – einfach deshalb, weil er das Melodramatische nicht einfach anti-betroffenheitsschulmeisterlich leugnet und zu negieren sucht, sondern etwas im Soundtrack etwa mit kurzen, pointierten Streichereinsätzen eingesteht und annimmt, ohne ihm zu verfallen. Damit fängt er nicht nur die Weltdimension der Erlebnisse für Jack ein, sondern nimmt und selbst mit der (traurigen) Gewissheitserfahrung von Erwachsenen sowohl ernst wie an die Hand. Zwischen Überwältigung und ebenso kalkulierter, noch enervierender weil manipulativer Lakonik und Distanz: Diese gelungene, ungewöhnliche Gradwanderung in Einklang mit seinem „Blickwinkel“ macht den in Vielem sozialproblemfilmkonventionellen, zugleich derart vorzüglich einfachen JACK so bemerkenswert und, denkt man darüber nach, absonderlich nachhaltig im eigenen sozialproblematischen Gefühlshaushalt. Ein Film, wie Jack selbst, der vor allem dann wächst, erwachsen und erwachsener wird, vor allem, wenn man ihn gesehen hat und - wie Jacks Mutter - nicht hinschaut.

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